Muspilli

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Autor: Arnold Hagenauer
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Titel: Muspilli
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Erscheinungsdatum: 1900
Verlag: Österreichische Verlagsanstalt
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Erscheinungsort: Linz, Wien, Leipzig
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Kurzbeschreibung: Roman
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[3]

Muspilli
Roman
von
Arnold Hagenauer
Ö. V.


Linz, Wien, Leipzig 1900


Oesterreichische Verlagsanstalt

[5]

Erster Theil.

[7]

1.

„Komm wieder! Hörst Du, komm wieder!“

Knut umfaßte sie stürmisch und wollte einen Kuß auf ihre Lippen drücken.

Aber die schlanke Frau verhüllte ihr Gesicht und tappte im Dunklen nach der Thüre.

Er führte sie und preßte seinen Körper dabei so eng an den ihren, daß ihn die kaum gesättigte Leidenschaft aufs neue packte.

Sie kamen zur Thüre.

„Du mußt wiederkommen.“

„Ich werde.“

„Wann?“

„Ich werde wiederkommen. Frage nicht mehr.“

Er öffnete die Thür, sie stieg über die Treppe, die in den Garten führte.

„Bleib, ich gehe allein.“

Er starrte ihr nach und schritt dann in sein Schlafzimmer zurück. [8] Er kannte sie nicht, sie war zum erstenmale vor einigen Stunden gekommen. Er wußte nur, daß sie schön sei, o, so schön!

Er warf sich auf sein Bett und küßte die noch warmen Stellen, wo sie neben ihm geruht hatte. Und all sein Denken erlosch, und es ward finster um einen brennenden Ring, und der Ring war die Frage: Wird sie wiederkommen?



2.

Und sie kam wieder.

Und sie kam immer wieder.

Und wenn sie beisammen lagen, dann gewann sie über Knut die Macht.

Und er verlor zuerst seinen Glauben.

Den Glauben an die Menschheit, die er anfangs nicht für schlecht hielt, sondern nur für elend und krank. Sie aber peitschte seine Sinne wild durcheinander, und wenn sein Körper ermattet war, so goß sich aus ihrem duftigen Leib ein Etwas, das er nicht kannte, in seine Seele und machte sie schlummersüchtig, matt und willenlos. Und so verlor er zuerst die Freude am Kampf, denn er that ihm weh. Wie einer nicht gern aufsteht aus dem warmen Bett, wenn draußen der Novembersturmwind heult, [9] und er fühlt sich so wohl im Dunste seines eigenen Körpers und soll nun hinaus in den kalten Reif.

Aber er wollte nicht in den kalten Reif.

Und so gewann sie die Macht.

Und so verlor er den Glauben an die Menschen.

Und der Verlust that ihm weh.



3.

Und sie kam jede Nacht.

Und er glaubte nur mehr an sich und an sie. Aber er war matt geworden, matt im Kampf. Und sie sagte, es gäbe Dämonen, die leise herumschleichen, und die über den die Herrschaft bekämen, der eine Schuld trüge, und wer trüge keine?

Da ward er schwach und feig.

Weil er aber nicht mehr kämpfte, so unterlag er. Es siegten viele über ihn. Zuerst siegte die Furcht, die Furcht vor der Schuld. Und da er die Schuld nicht kannte, so begann er zu grübeln, und er fand sie nicht, aber es blieb die Furcht.

Und er stand nicht mehr jenseits von Gut und Böse, sondern er ward verantwortlich. Aber er wußte nicht wem.

So entstand, gleichsam durch Parthenogenese, im Hirne der gestürzten ersten Titanen Gott und sein [10] Gericht, und sie vernichteten gleich seine Entstehung, denn sie sagten, er sei von jeher. Aber er selbst blieb.

So ward Gott.

Aber er glaubte nicht an Gott. Denn schon sind zuviel der Götter. Und wer hat die Kraft zur Parthenogenese?

Zarathustra, Buddha, Christus hatten sie, alle andern nicht.

Denn der Parse, der Inder und der Jude waren keusch. Alle andern aber waren nicht keusch. Darum konnten sie auch nur Fetische gebären.

Klingsor war zu schwach, selbst Gott zu sein, deshalb suchte er das Nirwana in Gott. Aber er war nicht keusch. Darum konnte er keinen neuen Gott schaffen, denn für ihn hätte der neue Gott der Christen ein anderer sein müssen, als für die alte Lene, die im Petrusdom an der Kirchenthür bettelt. Aber die hat doch auch einen Gott. Und er hätte sie gewiß so wenig besiegt, wie er den Parsifal besiegte; und vor dem Thoren und seiner jungfräulichen Macht versank Klingsors strahlendes Schloß. Knut ward Klingsor, aber nicht der Klingsor Richard Wagners, sondern der Immermanns.

Ophiomorphos zerfiel zu Staub, als er sagte: Öffne mir den Kreis! Und kein Zwerg sang ihm [11] die Sorgen weg. Denn an seiner Seite lag die Sphynx, die ihm mit ihren Räthseln stets neue schuf.

Aber der subjective Gott, den jeder als alleiniges Eigentum besitzt – der kleine Gott der Welt – hatte bei ihm keinen Tempel mehr. Und einen neuen Gott konnte er nicht schaffen.

So wurde sein Ich Kläger und Richter über eine Schuld, die er nicht nennen konnte. So verlor er sein Gotthum, den Glauben an sich selbst.

Und wieder stürzte ein Titane.

Denn nicht die Schuld befleckt, sondern der Glaube an die Schuld.

Deshalb zerfielen die Götter des Hellenismus zu Staub und waren doch die Götter der Schönheit.

Und es blieb ihm nichts mehr von seinem Selbst.

Denn er hatte der Sphynx sein Selbst zum Opfer gebracht.

Und er wollte nur mehr sie erhalten.

Und er glaubte an sie.

Und er betete sie an.

Und er trieb Unzucht mit seinem Geiste.



4.

Sie nahmen Gott ein praedicabile a priori um das andere. [12] Sie nahmen ihm die Materie.

Und da sie Logik studiert hatten, nannten sie ihn einen Geist. Denn hätte er die Materie, so wäre er ein Mensch.

Und dann müßten sie ihn stürzen, denn sie können sich keinen Übermenschen denken, sobald sie einmal Büchner und Häckel gelesen haben.

Sie ließen ihm nur die Zeit – sollte man meinen.

Denn keine Materie braucht auch keinen Raum.

Aber sie gaben ihm den Himmel.

Also brauchten sie auch das Wunder.

Aber die Zeit deckt sich nicht mit Gott.

Es gibt nur eine Zeit, und alle verschiedenen Zeiten sind Theile der einen Zeit.

Es gibt nur einen Gott, und alle kleinen Weltgötter sind Theile dieses Gottes.

Verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander.

Verschiedene Weltgötter sind aber zugleich, wenn auch hintereinander. Denn die kleinen Weltgötter zur Zeit der auto da fés rochen nach Pech und Schwefel oder nach Weihrauch, die Weltgötter fin d'un siècle et commence d'un autre siècle riechen nach Heliotrop oder Wagenschmiere. [13] Die Zeit läßt sich nicht wegdenken, jedoch alles aus ihr.

Auch Gott läßt sich nicht wegdenken, jedoch alles von ihm.

Die Zeit hat drei Abschnitte: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche zwei Dichtungen mit einem Ausgangs- und Mittelpunkt haben.

Vor Gott ist aber keine Zeit.

Nachdem die Materialisten, welche vorgeben, an keinen Gott zu glauben, diesem Gott, den ihre Anhänger in der weitaus größten Mehrzahl doch noch haben, weil sie fürchten, zwei praedicabilia a priori nahmen – die praedicabilia um ihn zu begreifen – nahmen sie dem einen praedicabile seine selbsteigenen praedicabilia.

Denn die Zeit ist heute der Gott.

Daher sprechen sie immer von Zeitgöttern.

Die Zeit als Begriff bleibt immer Zeit.

Der Begriff „Gott“ bleibt aber nicht derselbe.

Daher liegt er nicht allein in der Zeit.

qu. e. d.



5.

Knut saß an dem runden Tische in der Mitte seines Zimmers und wartete. Der Tag verflackerte [14] langsam, und „auf Sammetsohlen kam mit Katzentritt“ die Nacht.

Die Hängelampe goß ihr bleiches Todtenlicht über Knuts schlaff gewordene Gesichtszüge. So saß er und harrte seiner Sphynx.

Er vergrub sein Antlitz in seine schmalen, schlanken Hände, denn er trug den Kopf nicht mehr aufrecht, seit ihm sein Rückgrat gebrochen wordenwar. Und seit er nicht mehr zu sich selbst betete, mußte er den Menschen ins Auge sehen.

Was man aber nicht gewöhnt ist und nicht gelernt hat, kann man nicht.

Er trug den Kopf, solange er Riese war, so hoch in den Wolken, daß er nimmer eines Menschen Auge sah.

Es ist aber erniedrigend, sich von jedem ins Auge blicken zu lassen.

Und er wälzte sich im Staube.

Und die Menschen sahen in sein Auge.

Deshalb verhüllte er sein Gesicht

Und sehnte die Macht herbei.

Denn dann war er nicht mehr allein.

Wenn sie kam.

Seine schöne Sphynx.


[15]

6.

Er saß also und wartete.

Anfangs vergieng ihm die Zeit tödtlich, qualvoll langsam. Dann aber löste sich plötzlich ein furchtbares Druckgefühl von seiner Brust, und er fühlte sich unendlich leicht. Sie wird nicht mehr kommen! Das war für ihn eine unumstößliche Gewißheit. Jetzt vergiengen auch die Stunden rascher. Der Tag verbrannte. Es wurde dunkel. Sein Harren hatte eigentlich keinen Zweck mehr. Er wußte es selbst nicht, worauf er noch wartete. Auf jene, die er auf der Straße aufgelesen hatte, wie schon Dutzende vorher? Diese geheime, mystische Leidenschaft, die ihn geistig entmannte, die ihm seine ganze, frühere Überlegenheit raubte, war erloschen. Aber all das, was früher gewesen, kehrte deswegen doch nicht wieder.

Plötzlich wandte er seinen Blick zu der großen Astrallampe. Die Flamme brannte mit einem blendenden, qualvollen Weiß. Ihre wilde Zerhacktheitund Zerrissenheit fesselte ihn. Er empfand Schmerz, und da war es ihm, als ringe sich aus seinem tiefsten Innern etwas los, das früher ein integrer Bestandtheil seines Selbst gewesen war. Und dieses Unbestimmte begann jetzt zu denken, und er [16] selbst erfuhr nur, gleichsam durch Induction, die Producte dieses Gedachten.

Er nannte dies: „Mein Mephisto“.

„Mein Mephisto“, sagte er ganz laut.


7.
– – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – –

Ich habe eigentlich immer nur mit dem Körper geliebt. Meine Seele blieb dabei kalt. Und ich litt darunter – litt jammervoll. Aber später gewann der Körper eine gewisse Virtuosität – jene Virtuosität der Liebe, die so manches ersetzt, wozu nicht nur seine Nervenendigungen, sondern auch Seele – Seele – Seele gehört.

Ja, ich litt, denn du, du, den ich liebte, weil du allein mich nicht demüthigst, wenn ich dich Freund genannt habe, weil du allein jenseits stehst, du, du, ja du hast Seele. Ich aber habe nur Nerven, kranke Nerven.

– – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – –

Mephisto: Aber ich bin deine Seele – – –

Deine blutende, deine sterbende Seele – –


[17] Und diese Nacht ist meine bräutliche Todesnacht – – – – –

Soll ich dir diese Nacht erzählen?

So höre denn!

Höre!

Höre!




[19]

Zweiter Theil.

[21]

8.

Wir waren eigentlich zwei grundverschiedene Naturen. Du leichtlebig, aber dabei doch kalt und phlegmatisch, ein klein wenig egoistisch. Diesen kleinen, so unschuldigen Egoismus zur Schau tragend, liebenswürdig frech und schon ein wenig müde; jenes erste, angenehme Erschlaffen, der Vorbote des großen Zusammenbruchs, nach dessen Eintritt wir so kluge Augen machen und so weise Reden führen, wenn wir uns dabei auch vorkommen, wie moralpredigende, aus dem Zuchthause entlassene Sträflinge. Und wer dies leugnet, der ist ein Erzschuft. Es gibt aber solche, die sich unter allen Umständen für moralisch halten und aus ihrer asthmatischen Brust mit schlechtem Pathos Entrüstungskundgebungen hervorkrächzen, wenn ein anderer die fröhliche Sünde offen auf der Stirne trägt, weil er so groß ist, daß ihn das ziert, was die Zwerge zu ekligem Brei zerdrückt. [22] Ich, ach ich, ein unfreiwilliger Harlekin im Hofstaate des Lebens! Cynisch und frech, voll gemachten Übermuths, sinnlich, ohne die Kraft zum Genuß, müde zum Sterben, aber voll Lebensdrang, wie die aufgegebenen Kranken, die nicht daran glauben können, daß ihnen schon die Grube zurechtgeschaufelt wird.

Als wir uns kennen lernten, waren wir beide blutjung. Ich fühlte mich anfangs von Ernst zurückgestoßen, angeekelt. Aber seine hofmännische Liebenswürdigkeit, seine sich immer gleich bleibende Höflichkeit zwangen mich, so zu sein wie er.

Und dabei lernte ich Komödie spielen. Ich spielte sie meisterhaft, denn er ahnte nicht, daß ich einen Ekel niederzwang, wenn ich mein Glas erhob, um mit lächelnden Lippen ihm zuzutrinken. Später wurde ich durch Ernst selbst in seine Familie eingeführt. Ich fühlte mich rasch darin zu Hause, aber umso unerträglicher ward es mir, mit ihm ein intimeres Verhältnis geradezu eingehen zu müssen. Er war bedeutend besser situiert als ich, obwohl man auch meine Familie zu den wohlhabenden zählen konnte. Und ich war damals maßlos eitel. Ich taumelte von einem erotischen Genuß zum andern, und wie alle Jungens, war ich stolz darauf. Aber er schlug mich. Ich war wohl hübsch, vielleicht war [23] mein Gesicht hübscher als das seine. Aber ich war schwach gebaut, stets krankhaft blaß, mit glanzlosen, matten Augen, meine Stimme immer trüb und müde. Er kräftig und muskelschön, wie ein Athlet, mit frischem, rothem, gesundem Antlitz, vollem und doch weichem Bart, blauen, blitzenden Augen. Und seine sonore, klangvolle Stimme schmeichelte sich so leicht ein, nahm den Hörer so willenlos gefangen. Ich kam mir neben ihm vor, wie einer, der auf Mensur treten muß, wohl wissend, daß ihn sein Gegner jämmerlich verhauen wird. Ein Solcher haßt dann instinctiv, wider seinen Willen.

Es war kurz vor Ostern. Wir waren zusammen allein und langweilten uns beide. Ernst schlug vor, den Abend auswärts zu verbringen. Ich fühlte mich immer ihm gegenüber verpflichtet, und so sagte ich zu. Wir soupierten zusammen und giengen dann ins Chantant. Er war heiter, ungezwungen, liebenswürdig. Plötzlich kam ihm die Idee, wir sollten mitsammen eine recht verrückte Orgie der Erotik ausführen. Also mit ihm hinab in den Koth! Brrr!

Ich hatte nie Schiller’sche Ideen gehabt. Mir war nichts ein Götterfunke. Und die Freude hatte sich mir als Pariser-Grisette, nicht als Tochter aus dem Elysium, vorgestellt. Aber wenn ich ihn gern [24] gehabt hätte, hätte ich mir nichts daraus gemacht. Man erhebt sich ebenso leicht wieder, als man fällt. Das Gegentheil ist Phrase. Und selbst die schmutzigste Sünde ist noch immer ein wenig schön. Wenn man aber mit jemandem, den man liebt, zugleich eine freche Schamlosigkeit begeht, so kann das grauenhaft herrlich sein, denn dann ist ein Stück Seele dabei.

Also, ich willigte ein.

Pah, cigarettenduftende Küsse einer feilen Dirne. Was weiter!

Ein wenig Prostitution da se.



9.

Als wir uns wieder angekleidet hatten und die Dirnen verließen, schlich ich scheu hinter ihm die Treppe hinab. Es war etwas in mir zerrissen. Ein Irrthum.

Ich fühlte es gleich, jetzt müsse unser Verhältnis zu einander sich ändern. Das Gefühl des Ekels war verschwunden. Jetzt that mir’s weh, daß wir uns in der Suhle finden mußten. Zum erstenmal ein Stückchen Seele, und gleich besudelt!

Dann kamen die Ereignisse, die alles erst reifen sollten, unheimlich rasch nach einander: Es gab [25] einen Bruch mit Ernsts Familie. Er wurde bald darauf krank. Wieder genesen, diente er sein Einjährig-Freiwilligenjahr in einer fremden Garnison, irgendwo an der polnischen Grenze, weit entfernt von der Residenz, ab. Inzwischen starb meine Mutter. Ich fühlte mich furchtbar vereinsamt. Mit aller Macht suchte ich die Lethargie meines Geistes, die über mich gekommen war, abzuschütteln. In nicht ganz zwei Jahren vergeudete ich mein Vermögen fast bis zum letzten Rest. Ernst hatte ich vergessen.

An einem der ersten Sommertage stand ich im Hofe des herrlichen, gothischen Rathhauses der Residenz.

Plötzlich klopfte mir jemand auf die Schulter.

„Alter!“

„O, Ernst, Servus!“

„Wie geht’s?“

„Danke, und Dir?“

„So so, lala.“

„Na, na!“

„Warst Du vergangenen Sommer in Tirol oder in Deiner Heimat?“

„Ich war in Dänemark, zu Hause, heuer gehe ich aber wieder nach Tirol.“ [26] „Ich bitte Dich um Deine Adresse, lieber Knut, vielleicht schreibe ich Dir einmal, wir könnten uns irgendwo treffen.“

„VoilÀ.“

Hüteschwenken, Händedruck.

Ach diese conventionellen Lügen, wir sehen uns doch niemals wieder, dachte ich.

Und jetzt that mir’s weh, aber brennend weh, bis zum wahnsinnigen Schmerz. Ich schlief nichts während der ganzen folgenden Nacht.



10.

Und am andern Tag war er bei mir.

Wir saßen beide am Divan und plauderten. Und plötzlich kam ein überströmendes Glücksgefühl über mich.

Ich liebte ihn. Meine Vereinsamung war zu Ende.–

Und noch mehr. Ich fühlte, fühlte mit unerträglicher Gewißheit, daß mich jener glatte, höfliche, verschlossene Genußmensch gern hatte. Er war selbstloser mein Freund, als ich je der seine werden konnte.

Fröhliche Jugend, warfst du wieder einen Sonnenblick in mein verdüstertes Leben! [27] Wir verbrachten herrliche Tage miteinander und als mir der Arzt rieth, das Hochgebirge aufzusuchen, um meine schwachen Nerven zu kräftigen, schied ich zum erstenmal ungern aus der Großstadt, aus der ich sonst mit rasender Eile flüchtete, wenn der Hochsommer herankam.

In Korrespondenz standen wir beide nicht miteinander.

Nur einmal schrieb mir Ernst, kurz bevor ich zurückkam. Sein Brief war herrlich, aber er klang traurig aus.

Eine Todesnachricht!

Vilma, seine Cousine, eine schlanke, ästhetische Schönheit, hatte der Tod hinweggerafft.

Sie starb, kaum zweiundzwanzig Jahre alt, am Fuße eines großen, schweigsamen Berges.

Ich kannte den trotzigen, zerrissenen Gipfel; über die Nordseite war ich einst zu dem furchenreichen Haupte emporgeklettert, seine steinernen Hüften mit brutaler Gewalt umklammernd mit sehnigen Armen, die braunen, breiten Knie an die granitne Brust gestemmt.

Dort unten war Vilma gestorben!

Ich spann wirre Märchen. Ich sah den alten Berggeist lüstern wie einen Faun nach dem zarten [28] Wesen schielen, wie er sich über sie beugte, als sie die Stickerei am Saum seines smaragdnen Mantels, die Blumen, zerpflückte, wie er sie anspie mit seinem giftigen Athem. Da lächelte sie wohl und schlief ein.

Armer Ernst! Ich mußte traurig lächeln, als ich an jene Stunden dachte, wo ich, der Träumer, verloren am Kamine saß, während er und Vilma mit ihren Fingern leise über die Tasten am Clavier glitten; dann bog sich ihr schlanker Körper an seine breite Brust, und er neigte in einer schönen Linie seinen hübschen en profil-Kopf und suchte diese sehnenden, halbgeschlossenen Lippen. Ich freute mich damals an ihrem Glück. Ihn aber beneidete ich um dieses Seelenleben. Vielleicht war das auch ein Grund, warum ich ihn damals haßte!

Arme Vilma!



11.

Es war plötzlich kalt geworden im Predazzothal. Ich fuhr also am letzten September nach Hause. Es war eine qualvolle Fahrt in der engen „Schlafkiste“ des sleeping car. Ich lag in einem verwirrten Halbschlummer. Mir war’s, als lebte ich jene Nacht nochmals durch, von der mich nun schon mehr als zwei Jahre trennten, und in der mich, tief aus dem Balkan [29] herauf, die Dampfmaschine nach Hause geführt hatte. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick zum Fenster hinaus. Die Drähte der Telegraphenstangen strecken sich aus wie riesige Spinnenfinger, und es kam mir vor, als ob sie mich haschen wollten. Ich dachte nach, wie mich der langjährige, befreundete Hausarzt der Familie, mein Berather in zartester Kindheit – zu früh war mir der Vater in trauriger Weise entrissen worden – mit großen, schreckhaften Augen empfieng, wie er mit seiner leisen, heiser-rauhen Stimme zu mir sagte: „Die Mutter ist sehr krank!“ Ich antwortete ihm damals, ich wußte selbst nicht weshalb, italienisch: „Si, si, ho pensato.“ So vorwurfsvoll klang des Dalmatiners Stimme, der meine Mutter so gerne gehabt und so treu gepflegt hatte: „Sie hätten früher kommen sollen.“ Ich wußte jetzt, was ich an ihr verloren hatte. Es war eine entsetzliche Fahrt. Ganz zerbrochen kam ich endlich am Abend des dieser Nacht folgenden Tages an.



12.

Ernst hatte mich am Bahnhofe abgeholt. Schon am andern Tag besuchte er mich in meiner Wohnung, zweimal, um mich beidesmal nicht zu Hause zu treffen. Als Beweis, wie ich ihn liebte, diente mir [30] die Wahrnehmung, daß ich mich ärgerte, nicht länger daheim geblieben zu sein. Ich suchte einige Tage nach meiner Ankunft seine Familie auf, und jetzt sahen wir uns fast jeden Tag. Auch er kam häufig zu mir, bestimmt aber, wenn ich einmal es unterlassen hatte, ihn zu sehen.

Ich freute mich, in Ernst einen so aufrichtigen, treuen Gefährten fürs Leben gefunden zu haben.

Seine Freundschaft zu mir konnte allein meine Rettung werden, meine Rettung aus der entsetzlichen Entnervung, die meiner Herr geworden war, als ich, kaum neunzehn Jahre alt, wahrgenommen hatte, daß ich – kein Mann mehr war, oder besser gesagt, kein Mann mehr werden konnte. Zu einer Zeit, wo die andern erst beginnen, das Gift des Geschlechtsgenusses kennen zu lernen, war meine Liebe nur mehr das ohnmächtige Zucken halbgelähmter Nervenendigungen. Und so schwand meine ganze Thatkraft dahin, ich wurde zu jeder, selbst der geringsten körperlichen oder geistigen Anstrengung unfähig, wurde es mir unmöglich, für mich selbst auch nur den kleinen Finger zu rühren. Und doch, seit Ernst wieder bei mir war, fühlte ich eine gewisse Energie in mir aufkeimen, wenigstens den Willen, für ihn etwas zu thun. Während des Herbstes [31] und des anbrechenden Winters litt ich gräßlich. Geschlechtlich war ich fertig. Ernst zechte noch immer ziemlich stark vom Champagner der Liebe. Aber an diese unfreiwillige Entsagung hatte ich mich schließlich und endlich gewöhnen müssen. Etwas anderes, ein unbestimmtes Gefühl einer wahnsinnigen, krallenden Angst ließ mich nicht mehr los. Ich wußte, daß ich zum letztenmal einer großen, aufrichtigen, reinen Leidenschaft fähig war, wußte das mit unumstößlicher Gewißheit. Das wardie letzte. Vielleicht war es überhaupt die einzige gewesen. Die einzige darum, weil meine Seele stürmte, meine lebende, athmende dürstende Seele – weil ich, ich, ich liebte, nicht weil ein zur Freundschaft abgestumpfter Geschlechtswille die Zellen meines Gehirns und seiner Nerven so oder so durcheinander warf.

Und dann kam die Angst, die entsetzliche Angst, ihn zu verlieren, plötzlich, unvorbereitet, durch einen brutalen Auftritt.

Ich war recht kindisch. Wenn eine große Leidenschaft eine jähes Ende nimmt, so ist die nächste Folge eine Anarchie unserer Gefühle, aller unserer intimen und intimsten Ansichten. Dann freilich ist unsere Seele ein weites Feld mit ungeheuren, gigantischen Schutthaufen, aus denen die gefräßigen Flammen [32] unserer Leidenschaften emporlodern. Wir haben mit Blut und Brand und Mord unsere Liebe brutal erschlagen, aber eben deshalb besitzen wir noch die Kraft, von neuem zu lieben, von neuem zu hassen; noch sind wir nicht angelangt bei jenem traurigen, jämmerlichen Muthe der Feigheit, bei der kampflosen, marastischen Entsagung. Wer morden kann, der ist vielleicht, ja gewiß am besten prädestiniert, neues, junges, weihrauchspendendes Leben zu erwecken. Mörder werden kräftige, entschlossene Kinder zeugen. Dies fühlen auch die Weiber am besten. Die größten Tyrannen und Räuber haben die meisten nackten Frauen gesehen. Diese erkennen unbewußt in jenen die Akme der Zeugungskraft. Nur aus dem rücksichtslosen, anfänglich total planlosen Vernichten kann ein neues Werden blühen.

Woher also die Furcht? Die Furcht vor dem Plötzlichen? Naturgemäß hätte es da gar keine Furcht geben können, denn wenn mein Ich nach einer neuen Leidenschaft verlangt, so muß es die alte vernichten. Und bei Forderungen, die eben durch solche große Leidenschaften bedingt werden, hilft sich die Natur durch ein Radicalmittel.

Dieser plötzliche Bruch hätte durch den darauffolgenden rasenden Schmerz nur das Feld gedüngt. [33] auf dem eine neue, große, wilde Zuneigung hatte reifen können, sei’s eine Liebe, sei’s eine Freundschaft. Aber es war etwas ganz anderes. Das Vorgefühl der jämmerlichen Decadence, das instinctive Bewußtsein, daß dieses Gefühlsleben in uns Beiden an seiner allzu großen Üppigkeit ersticken werde. Vielleicht hätte eine heroische Selbstüberwindung geholfen, ein Selbstaufgeben. Aber dazu war ich zu schwach. Und von Ernst kam nicht der leiseste Anstoß. Ich fieng an, gereizt zu werden. Kleinigkeiten, harmlose Neckereien von seiner Seite verletzten mich öfters, zwar nur vorübergehend und nicht tief, allein sie verletzten doch.

Ernst hatte noch einige andere Freunde, mit denen er viel, mitunter mehr als mit mir, verkehrte. Das genierte mich wenig oder gar nicht. Eifersüchtig wie ein Gymnasiast war ich ja nicht, und außerdem trennte uns dieser Verkehr, wenn ich wollte, nicht eine Minute. Denn es war ebenso gut mein Kreis wie der seine, nur daß er ihn häufiger frequentierte. Die Vormittage brachte er bei einem jungen Juristen, Franz Fontana, zu, einem jener früh verbummelten Halbtalente, die dummen oder gutmüthigen, leichtlebigen Jungens schauderhaft imponieren können. Dieser Fontana, den mir zuerst Ernst vorgestellt [34] hatte, und den ich fast so lange kannte, wie er Ernst, war einst mein Freund gewesen, was man so mit neunzehn, zwanzig Jahren Freund nennt. Zur Zeit, als in mir die große Wandlung vorgieng, waren wir schon ziemlich auseinander gekommen. Mit jeder Stunde, die mich und meinen Freund näher brachte, bröckelte ein Stein nach dem andern aus dem ohnehin nicht sehr grundfesten Gebäude unserer Freundschaft. Ich war seinerzeit die eigentliche, treibende Ursache zum Bruche mit Ernstens Familie gewesen. Fontana, der dadurch wirklich viel verlor, gieng mit mir aus dem gastfreien Hause, aber nicht meinetwegen; er konnte da einmal auf recht billige Weise die Rolle des entsagenden Freundes spielen. Ich bat ihn um seine Einwilligung, als ich im Begriffe stand, zum erstenmale wieder mit Ernst im Kreise seiner Familie zusammen zu kommen. Er ließ mir freie Hand, wie er sagte.

Ich fieng also den alten, gewohnten Verkehr wieder an. Mit Fontana ward das Zusammensein im engeren Zirkel unerträglich. Jetzt zeigte er seine innerste Natur, zuerst nur mir. Die andern, allen voran Ernst, nahmen den traurigen Hanswurst für voll. Für mich war er das und blieb er das, wozu ihn seine Natur, eine verfehlte Erziehung – der [35] Name Erziehung paßte eigentlich gar nicht, dazu war seine Umgebung zu ungebildet – und ein nicht zur rechten Zeit eingeschränkter Eigendünkel gemacht hatten – ein boshafter, ekelerregender Narr. Aber ich hatte mit ihm Mitleid, er erschien mir erblich belastet. Sein Vater, von Natur aus tief–geistig veranlagt, ward durch die leidigen, pecuniären Verhältnisse schon als Student in eine Laufbahn gedrängt, die ihm für die Zukunft keine rettenden Aussichten bot, höchstens eine mittelmäßige Bourgeoisexistenz, und versumpfte langsam in dem geistlosen, maschinellen Dienst seines Bureaus. Dann gieng er, bereits enttäuscht und nicht mehr im vollen Bewußtsein seinem verfehlten Daseins, eine Ehe mit einer direct geistesschwachen, wenn auch gutmüthig veranlagten Person ein, die, nicht einmal hübsch, keinen andern Vorzug hatte, als ihre grenzenlose Borniertheit und ein mittelmäßiges, bürgerliches Vermögen. Je mehr seine jugendliche Elasticität nachließ, desto mehr zog es ihn von seinen wissenschaftlichen – meist linguistischen – Studien weg zum Weinkrug. Er trank viel, noch dazu in einer philiströsen Gesellschaft mit durch und durch verblödeten Ansichten, und machte im vorgerückten Alter den Eindruck eines ziemlich hochgradigen Alkoholikers. [36] Als Fontana auf die Universität abgieng, starb der unglückliche Mann des verfehlten, „verramschten“ Lebens.

Franz war während seiner Gymnasialzeit, also in einer Periode, in welcher die sich vorbereitende Pubertät den ganzen Organismus, insonderheit das Nervensystem derart verändert, daß unbedingteste Ruhe, die am allerwenigsten durch widernatürliche Excesse sexueller Natur gestört werden darf, Hauptbedingung zur ungestörten, vollen Entwicklung ist, einer gewissen gymnasialen Jugendkrankheit bis zu einem Grade ergeben gewesen, der nur mehr pathologisch näher bestimmt werden konnte. Diesen Eindruck mußte jeder medicinisch oder psychologisch gebildete Mensch sofort gewinnen. Natürlich leugnete er mit einer widerlich-unschuldigen Frechheit. Als er in vernünftigere Bahnen einlenken wollte, war er zu depraviert, um an dem an sich unbedeutenden Geschlechtsgenusse die Befriedigung zu finden, welche eine leidenschaftliche Jugend verlangt. Seine Nerven kannten das Weib nicht mehr. Und er tappte fort in der alten Suhle, um sich höchstens dann und wann im Schlamme der Prostitution einige Enttäuschungen zu holen.

So krystallisierte sich der echte „Gefühlsschuft“ heraus.


[37] Er mit seiner abnormalen Moral, die er jedem andern aufhalsen wollte, nur nicht sich selbst, glaubte in seinem Größenwahn, nicht nur ein ganz eigenartiger Kopf zu sein, nein, er war überzeugt, daß er ein Auserlesener sei. Dieser Arme im Geiste, dieser „Rauscherzeugte“, glaubte, daß die Absonderlichkeit seiner Empfindungen und seiner gewonnenen Eindrücke jede seiner an sich so unbedeutenden und kleinlichen Handlungen veredle und auszeichne. Aber alle diese Empfindungen fußten nur auf seinem brutalen Egoismus. Und immer schmatzte er mit bäuerisch-rohem Behagen über seine Säuferlippen das Wort „Moral“.

Er war so jämmerlich geistesarm, daß er noch immer an eine allgemeine, für jedes Mitglied der Gesellschaft bindende Moral glaubte, an eine jedes Individuum voll und gleich bindende Moral, in einer Zeit, wo sich die allgemeine Auflösung des Staates und der Gesellschaft in lauter Einzelindividuen gebieterisch vorbereitet. Als ob es jemals eine Moral gegeben hätte! Es kann höchstens von einer individuellen Moral gesprochen werden, und auch die ist nicht weit her. Ein freier Geist wird sie jedenfalls bald zum Teufel gejagt haben. Wer würde sich, wenn er nicht eine Sclavennatur [38] ist, seine eigenen Ketten schmieden helfen? Und dieser Fontana übte einen ziemlichen Einfluß auf Ernst aus. Wohl fürs erste infolge des langen, intimen Umganges; denn Ernst war Gewohnheitsmensch durch und durch, dann aber auch, weil Franz ein ausgezeichneter Clavierspieler zu sein schien. Das heißt, auch das suggerierte er nur seiner Umgebung, indem er sich solange selbst Weihrauch spendete, bis er die anderen durch den widerlich– süßen Duft dieser Selbstberäucherung betäubte. Das einzige, was er konnte, und das blendete eben die, welche selbst dieses Instrument nicht behandeln konnten, war, zur Noth schwierige Etuden rasch und ohne Fehler vom Blatt zu spielen, und seine dummen Glotzaugen gewannen den Ausdruck eines sich freuenden Idioten, wenn er die Schwierigkeiten überwunden hatte und jetzt sich nun erst recht einbildete, ein Künstler zu sein. Er hatte aber einen harten Anschlag und hackte alles gleichförmig in entsetzlicher Stumpfsinnigkeit auf dem gequälten Instrumente herunter. Nie lag Seele, nie lag Gefühl in seinem Spiel, nicht das einfachste Volkslied konnte er begleiten, ohne die Stimmung mit brutalem Unverstand zu zerstören. Er verstand nie, was er spielte, für ihn waren die Noten nur schwarze Köpfchen, welche diese oder jene Taste näher [39] bezeichneten. Das Endresultat der vierhändigen Übungen, welche Ernst und Fontana zusammen betrieben, war dasjenige, daß Ernst sein bißchen Clavierspiel total verlernte und nun selbst die Töne nach seinem berühmten Muster aus dem Flügel quetschte.

Anfangs störte der tägliche Umgang Ernsts mit Fontana unsere zarte Freundschaft nicht. Wir verkehrten ungezwungen miteinander, wie und wann wir wollten. Ernsts Zartheit that mir unendlich wohl! Er verstand es, mich mit einem Schlage aus den fürchterlichsten Stimmungen herauszureißen, die meiner so oft und so gebieterisch Herr wurden. Der Ton seiner Stimme genügte, wenn ich manchesmal, wie fassungslos, der wüthendsten Verzweiflung hingegeben, am Biertische in mich hineinversank, um mich in eine fast heitere Laune zu versetzen. Wenn er an dem, in einer solchen Verfassung stets fremdartigen Klang meines Organs merkte, daß ich nach einem rettenden Balken rang, um mich anzuklammern, so gelang es ihm durch die einfachsten Mittel, mich in ein vollständig anderes Gefühlsmilieu zu versetzen.

Wenn er sein Glas erhob und mir zutrank, diesen Blick mit der Fülle seiner warmen, ungeheuchelten Empfindung, diesen Blick, den nur ich verstand, diesen Blick der großen, wahren, reinen [40] Liebe, dieses Stück Seele, das konnte nur er, nur er mir geben. Wie stolz war ich auf diese Freundschaft. Ich erinnere mich, daß er mir öfters ohne Veranlassung mit seiner schlanken, zarten, weißen Hand zärtlich über mein dichtes, gewelltes Haar strich. Ich fühlte einen elektrischen Strom durch meinen Körper laufen, aber ganz, ganz sanft, ganz anders, wie jenes convulsivische Zucken, wenn unsere Hände irrend an dem glühenden Körper des Weibes herumtasten, jenes Weibes, dem wir Haar, Stirne, Mund, Augen, Hände, Busen – – – mit raubthierartigen Küssen bedeckt haben, wenn uns der eigenthümliche, scharfe Geruch der vibrierenden, nackten Leiber in jene fürchterliche Aufregung versetzt, in der wir nicht mehr zu erkennen vermögen, ob wir den tiefsten Schmerz oder die höchste Wollust empfinden, ob wir ein im Blute wühlender perverser Wüstling oder ein Heiliger sind, der sein Fleisch mit glühenden Stacheln züchtigt.

Und ich sehnte mich so, so sehr nach Ruhe. Ich fieng an, Fontana, der feige und gemein, in seiner tückischen Saufboldnatur, all mein neu erwachtes Gefühl mir, und zwar nur mir gegenüber, zu beschmutzen wagte, zu hassen, nicht weil er einen, meiner Ansicht nach für sich aussichtslosen Kampf [41] mit mir führte, sondern, weil er eine teuflische Freude darin fand, mir, dem armen, verlassenen Gefühlsbettler meine letzte Habe zu nehmen – das Stückchen Seele, das ich mir erobert hatte, nach all den jahrelangen, unsäglich bitteren Qualen.

Gerade um jene Zeit dachte ich häufig an den noch so fernen Frühling, ich freute mich kindisch, ich stellte mir im Geiste vor, wie wir so alle Tage beisammen sein würden, allein zu zweien, oder in der Gesellschaft der liebgewonnenen Freunde. Und wenn schon in den ersten Nachmittagsstunden die trüben Herbstnebel die Gassen fegten, wenn ein feiner Staubregen auf das glattgetretene Pflaster herniederrieselte, dann dachte ich unwillkürlich wie durch Alterosuggestion an einen jener zahlreichen Juniabende des vergangenen Jahres, wenn wir beide schweigend im Kahn saßen, ruhig, unbeweglich. Und auch das Boot schaukelte nicht in dem todten Seitenarm des großen Flusses. Ich bohrte meine Augen oft tief in das schillernde, unruhige, falsche Grün, das einem Gewebe übereinandergelegter, feiner Gazeschleier glich, mit ins Dunkle steigender Nuancierung der einzelnen Schichten. An den flachen, nur unmerklich erhöhten Ufern wuchsen unzählige Fliederbüsche. Die blühenden, schweren Zweige neigten sich in einer Färbung von irisierendem [42] Violett über das Wasser, dazwischen schwankten im leisen Abendwinde die leichten, schlanken, gelben Ranken des Goldregens. Die Gipfel der Fliederbüsche, starr und steif von Blütenbüscheln, schwammen grau und bläulich in der Athmosphäre, wie ein Reflex ericafarbenen Sammets floß darüber die warme Luft. Die scheidende Sonne vergoldete diese Farben ohne Realität, diese abstracten Reflexe, ohne den Grundton zu zerstören. Der schwere, wollüstig–schwüle Duft legte sich bleiern auf die Sinne. Ich dachte, wenn ich hier allein mit einem Weibe säße, müßte sich aus diesem lebhaften, übersattigtem Violett ein Schatten loslösen und über das märchenhafte Grün dieser todten Flut leise zum Steuer gleiten, leise, leise – und grinsend, hohnlachend steuerte uns dann wohl die Sünde in eine fliederumstarrte Bucht. Alles verschleierte sich, als zerschwamm in diesem ruhigen, satten, sterbenden Licht.

Ganze Züge von Schwalben jagten pfeilschnell durch die Luft, wechselnd ihre lauten Schreie ausstoßend. Bald zu dem von einem drohenden Roth übergossenen Himmel aufsteigend, bald die Wipfel der Fliederbüsche streifend mit ihrer glänzenden Brust. Ein Fisch schnellte aus dem Wasser. Weiße, schillernde Perlen stoben empor und fielen in die smaragdene [43] Flut zurück. Meine Hände übers Knie gekreuzt, beugte ich meinen Oberkörper vorwärts und starrte über die weithin sich dehnende Wasserfläche, die jetzt ein leiser Windstoß kräuselte. Im Nu verschwand das tiefe, satte Grün, gieng zuerst in ein hartes Silberweiß über und löste sich dann, je weiter der Blick vorwärts drang, in einen milden Reflex. Die Luft und das welkende Licht patinierten den Glanz der weiten, farbenathmenden Fläche.

Und dann strich mir Ernst sanft übers Haar – ein Ruck, mächtig griffen die Ruder ins Wasser, und der Nachen schoß, einen langen, schillernden Streifen hinter sich ziehend, vorwärts.

– – – – – – – – – – –

Und vor meinem geschlossenen Fenster rieselte der feine, kalte Staubregen durch den trüben Nebel auf das glattgetretene Pflaster, rieselte unaufhörlich.


13.

So kam der Winter. Er ließ sich erst in der Mitte des Monates December hart an. Ernst gieng weder Schlittschuhlaufen, noch besuchte er Bälle. Auch das Theater vermied er.

Ich folgte so ziemlich seinem Beispiele. Auf den Eisplatz gieng ich nie. Von allen den zahlreichen [44] Bällen und Tanzunterhaltungen besuchte ich nur einen Ball, der in geschlossener Gesellschaft in einem der ersten Hotels der Residenz abgehalten wurde. Das Theater vernachlässigte ich sehr – ganz gegen meine sonstige Gewohnheit. Das Varieté sah mich nie, obwohl ich in Kopenhagen einer der eifrigsten Besucher des Tivoli und sogar des Scala gewesen war. Ich gieng völlig auf in der Gesellschaft Ernsts, in der Beobachtung all der unzähligen Einzelheiten, die unsere Freundschaft in dieser schönsten ihrer Phasen durchmachte.

Eintöniger, mit Schnee vermischter kalter Regen tropfte tagaus tagein in diesen trüben, sich ins endlose dehnenden Gassen. Diese Tage, diese langen Abende, diese noch längeren Nächte, wenn sie auch voll resignierter Traurigkeit und verhaltener Schmerzen waren, bargen dennoch eine gewisse ruhige Seligkeit in sich.

So kam Weihnachten heran. Ich liebte in dieser still-geschäftigen, heiligen Zeit den reinen, weißen, unaufhörlich mit weicher Heimlichkeit niederfallenden Schnee. Aber diesmal klatschten nur breite, breiige Flocken nieder, die in ihrem eintönigen Grauweiß sich an den Leisten der Fensterrahmen zu langen, lockeren Streifen anhäuften, während sie auf der [45] Straße zertreten, zerfahren, zerstampft, sich bald in einen bräunlichen Brei auflösten.

Ernsts Mutter hatte mich für den Weihnachtsabend, sowie für Sylvester geladen, obwohl sie schon seit mehr als einen Monat an Ischias erkrankt war und unendlich viel litt.

Es war schließlich und endlich wohl nur der angeborene Takt einer fein veranlagten und gut erzogenen Frau aus den besten Gesellschaftskreisen, die mich an jenen Tagen, an welchen selbst die Ärmsten der Armen ein wenig Freude genießen, nicht allein wissen wollte, weiter nichts, vielleicht auch Mitleid.

Fontana legte es darauf an, mich gerade an jenem Tage, den ich sonst – vielleicht seit ich „homme du monde“ geworden war, das einzigemal im Jahr – mit meiner armen Mutter gemeinsam verlebte, und an welchem ich den ganzen Schatz ihrer großen, heiligen Liebe zu mir genoß und auch sie dadurch glücklich machte – denn sie verlangte nicht mehr, als mich lieben zu dürfen – aufs roheste zu verwunden.

Zuerst höhnte er mich wegen der Einladung. Nun ja, ein armer Teufel, der kein eigenes Heim hat, da gebietet ja der Takt eine conventionelle Lüge.


[46] Schließlich kam’s zu einem fürchterlichen Streit; nicht laut, lärmend, polternd, nein, fast flüsternd gesprochen flogen die Worte hinüber und herüber. Worte wie Gift.

Und plötzlich zischte er zwischen seinen stumpfen Zähnen ein Wort hervor, ein Wort, von dem er wußte, daß es mich tödtlich verletzte.

Armer Paralytiker!

Und nochmals zuckte er mit seinen etwas schiefen, zu hohen Schultern und sah mich mit blöd-boshaften Augen an, in deren Geglotz er etwas wie Mitleid, kennbar gemachtes Mitleid legen wollte. Und dasselbe impertinente Mitleid zitterte aus seiner wuthbebenden Stimme:

Armer Paralytiker!

Ich gab ihm keine Antwort, aber in meinen Fingerspitzen zuckte es. Ich hätte ihm so gerne die Kehle zugeschnürt, bis der letzte Athemzug pfeifend aus seiner phthysischen Brust entflohen wäre. Jetzt war ja noch Zeit, aber in ein paar Jahren, wer weiß! Und vor mir stand im Geiste der Arzt, ein stiller, ungefähr vierzigjähriger Mann mit energisch geschnittenen Denkerzügen, sein langes, tiefschwarzes Haar floß bis auf die Schultern und schimmerte in metallisch–bläulichem Glanz. Der Teint dieses [47] Murillo-Kopfes war von der Farbe des gebeizten Ebenholzes, eine tief-dunkle Bronce. Seine frauenhaft zarten, weißen Hände hatten soeben die äußere Untersuchung beendet:

„Ich kann Ihnen nur Ruhe empfehlen, Ruhe und wieder Ruhe, und eine Lebensweise, die derjenigen, welche Sie bis jetzt geführt haben, völlig entgegengesetzt ist. Ich glaube, daß eine plötzliche Änderung, aber auch nur eine plötzliche, Sie vor schweren Rückenmarks-Complicationen retten kann. Ich bin keiner der Ärzte, die dem an Nicotinvergiftung erkrankten Raucher Tabak, dem Gewohnheits-Säufer Alkohol, dem Wüstling Weiber verordnen.“

Ich hatte ein paar Semester Medicin studiert, und konnte mir das ganze Bild jener entsetzlichen Krankheit, welche die Ärzte Rückenmarks-Paralyse nennen, vorstellen. Ich fühlte das unheimlich Schleichende der Krankheit, sah mich im Geiste jahrelang im Lehnstuhl an Händen und Füßen gelähmt, mit schwerer Zunge nur halbverständliche Worte stammelnd.

So ward ich denn am heiligen Abend und den Rest des ganzen Jahres von jener fürchterlichen Vorstellung gepeinigt. Meine Qual war blutig grausam.


[48] Der Weihnachtsabend verlief für mich trostlos. Ich war in schmerzvollster Stimmung, Ernst von einer eigenthümlichen, fast ironisch-verletzenden Lustigkeit, hinter welcher sich eine tiefe Verstimmung barg. Vor zehn Uhr war ich schon wieder zu Hause und lag im Bette. Von der nahen Martinskirche hörte ich noch die zwölfte Stunde schlagen. Endlich schlief ich ein, dumpf, bleiern, ohne Ruhe, ohne Erquickung zu finden.


14.

Am letzten Tage im Jahre fieng es gegen Abend leise zu schneien an. Feine, ganz feine aber feste Schneeflocken fielen lautlos zur Erde, erst nur ganz vereinzelt, dann aber immer dichter und dichter. Ein leichter, aber scharfer Wind blies ihnen dabei zum Tanze auf. In den langen Straßen, die zur Zeit der Abenddämmerung von einem dichten Menschenschwarm erfüllt waren, flammten jetzt die Lichter auf, unzählige Lichter, die einen auf hohen, grün angestrichenen Eisenstangen – ich glaube, so etwas nennt man Laterne – die andern unstet dahinrollend in buntem Farbenwechsel – roth, gelb, grün, blau, violett, und mitten hinein ergoß sich über das beschneite Trottoir das harte, metallisch-weiße [49] Licht der elektrischen Lampen in den unzähligen Schaufenstern. Glanz und Reflexe. Glanz und Reflexe und Schneeflocken.

In meinem Innern hatte ich ein eigenthümliches Gefühl, wie ich so dahinschritt. Wie eine offene, sehrende Wunde. Es that mir etwas weh. Eine Bemerkung, welche Ernst gestern gemacht hatte, gewiß nur ein harmloser Scherz, aber ich ward ihm gegenüber nachgerade von einer krankhaften, knabenartigen Empfindlichkeit.

Ich bog in eine verlassene Seitengasse ein. Hier war es ganz öde und dunkel. Wenige Schritte, und ich befand mich vor dem Hause, welches Ernst bewohnte. Ein hoher, kahler, schmuckloser Neubau mit elegantem Intérieur – breite, teppichbelegte Treppen, blankgeputzte, messingene Treppengeländer. Der Flur war hell erleuchtet. Ich stieg langsam die Stufen empor. Mich fröstelte.

Eine, in einem mit Zobel verbrämten, blauen Sammetmantel gehüllte Dame, der ich Platz machte, indem ich mich bescheiden an die Wand drückte, streifte mit freundlichem Nicken an mir vorüber. Ich dachte unwillkürlich an jene Enterbten, die heute hungernd und frierend unter irgend einem Brückenpfeiler kauern müssen und fieberglänzende, [50] begehrliche Raubthierblicke auf die langen, lichtererstrahlenden Fensterscheiben werfend, plötzlich, von einem wilden, ihnen unerklärlichen Rachegefühl erfaßt, den Nächstbesten niederschlagen, damit wenigstens einer büße. Wenn auch ein Unschuldiger, aber büßen soll er für ihr ebenfalls unverschuldetes Elend. Wenn sich ein solcher „Mordgeselle“ ohne die geringste Reue, aber im vollsten Bewußtsein dessen, was er gethan, etwa so vertheidigen würde:

„Ihr seid verpflichtet, mich zu verurtheilen, verpflichtet, weil ich euch und euere ehrenwerte Sippe, diese vollgefressene Sippe, in Schrecken gesetzt habe. Es wäre ja auch wider alles Recht, wider alles Gesetz, wider alle Sitte, wenn ich straflos meine schwache Kraft an der übermächtigen Gesellschaft, die uns alle aussaugt bis aufs Mark, erproben wollte. Schleift mich zum Galgen, reißt mich auf die Guillotine, aber versucht es nur, mir mit all den Qualen, die ihr ersinnen möget, nur einen Schrei des Schmerzes, mit den hohltönenden, wohlgedrechselten Phrasen nur ein Wort der Reue zu entlocken! “ – . . . . . . . . bei meinem Ich, den spräche ich frei.

Die Gesellschaft von heute und gestern hat den Muth, einen zu verurtheilen wegen dieses und jenes [51] Verbrechens, zu dem schließlich und endlich sie allein ihn gedrängt hat, weil da hundert über einen gehen, aber den Muth hat sie nicht, sich ein für allemal den morschen Culturfetzen von ihrem verkrüppelten Leibe zu reißen, damit Luft und Licht zu ihrem Körper komme und ihn heile – heile.

Ich ließ meine Hand über die dicken, rothsammtenen Schnüre gleiten, die zum Anhalten dienten und an den Geländern dahinliefen. Ein unangenehmes Gefühl erregte die feinsten Nervenendigungen der Haut und machte sich besonders am Kopfe, Nacken, Hinterhaupt und längs der Wirbelsäule hinunter bemerkbar.

Ich war auch heute in derselben stummtraurigen Verfassung, wie am heiligen Abend. Dasselbe Gefühl unendlicher Verlassenheit war meiner Herr geworden.

Und doch heiterte ich mich bald auf. Ich fühlte mich schon glücklich, mich nur so wie ein Bettler in eine warme Ecke drücken zu dürfen, wenn auch nur für kurze Augenblicke, mir eine Illusion, eine Stimmung stehlen zu können, die ich in meiner Verlassenheit so sehr vermißte.

Im allgemeinen verlief der Abend, wie solche Familienfeste gewöhnlich ablaufen. Doch vermißte [52] ich die conventionelle Lüge, das geheuchelte Glück, die mit schlechter Schminke kraß aufgetragene Zufriedenheit, wenngleich mir auch nicht alles wahr und echt erschien, was meine Augen sahen und meine Ohren hörten.

Als die Pendeluhr zwölf schlug, standen wir natürlich auf und gossen heißen Punsch in unsere Gläser und stießen an auf ein glückliches, neues Jahr. Ernst küßte mit trauriger Zärtlichkeit seinen Vater, einen alten, etwas gebückten Mann, aus dessen jugendfrisch blickenden Augen jener unzerstörbare Optimismus leuchtete, welcher seinem Besitzer oft mehr des Unheils bringt als des Glücks, jene „gute Hoffnung“, die dem Leichtgläubigen die abenteuerlichsten, von vorneherein verlorenen Projecte als gewinnbringend vorspiegelt, um ihm dann die Wirklichkeit zu verfälschen, damit er nie klar sehe, ein Blinder, dem man vom Märchenlande erzählt und in Farben schildert, die für ihn nur hohle Begriffe, ja noch weniger, Worte ohne Bedeutung sein müssen.

Wir beschlossen beide, noch in ein nahegelegenes Restaurant zu gehen, um dort unsere Freunde aufzusuchen, welche vereinbart hatten, an diesem Orte zusammenzukommen, nachdem sie im Kreise ihrer Familien das neue Jahr erwartet hatten.


[53] Fontana, der sich zu Hause mit seiner geistig beschränkten Mutter in demselben Tone beständig herumbalgte, wie Zuhälter mit ihren Dirnen, und dabei die glänzendsten Proben seines geistig „erleuchteten“ Zustandes ablegte und dem daher sein „Heim“ immer „fremd“ und „ungemüthlich“ vorkam, war bereits dort. Er begnügte sich damit, mich mit zusammengekniffenen, glanzlosen Augen unsäglich blöd anzustieren. Im übrigen war er natürlich schon vollgetrunken wie ein Schwein. Mit der Zeit wurde es in dem engen Locale unerträglich schwül, der Dunst der schwitzenden, wie die Häringe in einem Faß zusammengekeilten Menschen, die verschiedenen, von den Berauschten vergossenen Getränke und der Rauch unzähliger schlechter Cigarren und noch schlechterer Cigaretten machten die Athmosphäre direct uneinathembar. Die meisten sahen dies auch ein und schwankten, wie vom Lichte betäubte Nachtfalter, um die beschmutzten Tische, mit unsicherer Hand nach ihren Überkleidern tappend; nur Fontana saß, die Hände in die Hosentaschen vergraben, wie geistesabwesend da, stierte in die zum Schneiden verdickte Luft und paffte aus einer zerbissenen Cigarre dicke Rauchwolken vor sich hin. Hin und wieder schmatzte er dabei mit seinen schmutzigen Lippen.


[54] Ernst riß ihn empor, sein Intimus, ein frecher, dummer, norddeutscher Ladenschwengel, hielt ihm seinen Mantel um und setzte ihm seine Pelzkappe auf. Im Kaffeehaus dasselbe – Punsch, Thee, Grog – Grog, Thee, Punsch. Dann wanderten wir ins Restaurant zurück. Natürlich ein kräftiger Frühschoppen, aber der gab uns jetzt doch den Rest. Um die Mittagsstunde trennten wir uns mit dem erhebenden Bewußtsein – volle achtzehn Stunden durchgesoffen zu haben. Seitdem nahm mein bisher chronisches, langsames, psychisches Absterben acute Formen an. Ich lebte wie im rasenden Fieber dahin, meine Laune wurde immer sprunghafter, bald verfiel ich in die zügelloseste, tollste Ausgelassenheit, bald wieder in die dumpfste, bleiernste Schwermuth. Ich quälte mich und Ernst, der sich stets gleich blieb und mit classischer Geduld mein verrücktes Wesen ertrug. Seine Ruhe, sein Zureden, aus dem ich die aufrichtige Wahrheit der Freundschaft fühlte, wirkte unzweifelhaft wohlthätig auf mich ein. Und doch glotzte schon hohnlächelnd das Ende unsere junge, bleiche Freundschaft an.


15.

So lebte ich fort, während in meinem Innern eine unheimliche Ruhe und Stille herrschte, ein Proceß [55] der Vertiefung meiner seelischen Lebensfunctionen vor sich gieng, der mir Stunde für Stunde blutigere Wunden schlug.

Es gibt gewiß Naturen, die schon ihr eigener animalischer Werdeproceß durch die dadurch geschaffenen Eigenschaften ihres Denkapparates von vorneherein dazu bestimmt, einst nur nach den Ergebnissen ihres forschenden Denkens, nach diesen letzten individuellen Wahrheiten zu handeln. Andere aber sind ab origine unselbständig, was die Überwerte anbetrifft, welche sie annehmen, und an die sie glauben. Ich möchte sagen, für sie sind die Evangelien die sittlichen Ideale, jene bald streng philosophischen, bald auffallend empirisch-unphilosophischen Theoreme, die uns gewaltsam zu den fixen Ideen drängen, welche unsere ganze Gesellschaft beherrschen und unser Denken durch unsere Feigheit zügeln: Staat, Moral, Sitte, Pflicht gegen die Nächsten und ihr Eigenthum, als da ist: Weib, Haus, Garten, Kind, seine Leidenschaften, seine Ansichten, kurz alles, was sein Egoismus zäh umklammert, ergo die ganze, große, conventionelle Lüge im übertragenen Wirkungskreise.

Ich gehörte zu den letzteren. Aber meine Ich-Natur wollte stark und unabhängig und frei – oder nicht sein. Darum mußte ich einsehen lernen, daß ich nur allein sein [56] kann, ohne Leidenschaft für ein anderes Individuum, also für eine ganz andere Welt des Willens und der Vorstellung. Jede Liebe, jede Freundschaft ist Sclaverei, aber ihr Joch ist oft gar zu süß und ihre Bürde leicht.

Doch die Schule war bitter. Und werde ich die Reifeprüfung bestehen, als ein Mensch, der über das Gute und Böse (das Kalt und Warm der sittlichen Weltanschauung, also wie die physikalischen Begriffe nur eine Differencierung) hinausragt und innerlich befreit ist und gerade deshalb, weil er die Herde so sehr verachtet, seiner einsamen Sonnenhöhe gegenüber aber Burgen der Geistesedlen schauen will und nicht den Fuß auf ihren Nacken setzt, sondern sie hinaufzuheben anstrebt? Ich handelte instinctiv, noch war ich mir des Endzwecks nicht bewußt, blind, tappend stieß ich die aufeinander wirkenden Empfindungen und Ereignisse vorwärts, die auch meine große Leidenschaft zermalmen sollten; aber nicht von innen her, sondern von außen mußte der Anstoß kommen und sich nach innen einfressen wie ein ätzendes Gift.


16.

Nach einem trostlos verbrachten Nachmittag kehrte ich heim, um mich in Soiréetoilette zu werfen. [57] So sehr mich Gesellschaften anwiderten, eben an diesem Tage sehnte ich mich unter die geschminkten Schatten mit ihren Marionetten, Lächeln und ihren Drahtpuppenverbeugungen, die sich Menschen nennen. Ich trat in mein Zimmer. Es war schon ganz dunkel und eisig kalt. Ich zündete die Lampe an. Ein Billet in einem Rosacouvert, das einen mir wohlbekannten Namenszug in eigenthümlich zerhackter Schrift trug, fiel in meine Hände. Rechts oben in der Ecke eine siebenzackige, protzige Krone und der Namenszug H. v. P. Eine Absage und die gewöhnlichen, lappalienhaften Entschuldigungen. Unwohlsein, Migräne, bedaure tief u. s. w. Diese gutgesinnten „Stützen der Gesellschaft“ haben nicht einmal mehr den Muth, zu sagen: „Wir wollen oder wir können nicht.“ Die Lüge muß überall ihren officiellen Knicks machen.

Ernst hatte mir nachmittags erklärt, er werde heute abends unter allen Umständen zu Hause bleiben. Er mußte mir aber unter allen Umständen heraus. Ich war in der Einsamkeit, die mich umgab, in der psychischen Aufregung, die es mir unmöglich machte, durch geistige Arbeit meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, von einer qualvollen Furcht vor mir selbst, vor einem unbestimmten Etwas, überfallen worden. Aber nicht nur die Einsamkeit, auch die [58] fremden Menschen begann ich zu fürchten. Ernst mußte aus seiner Bude rücken, er konnte, er durfte mich nicht allein lassen. Einen Moment verließ mich mein ganzes Denkvermögen, ich war in diesem Augenblicke nichts, nicht einmal ein Automat, denn ich existierte in keiner Vorstellung und meine eigene hatte aufgehört.

Ich zündete die Lampe an; wie bewußtlos starrte ich in die runde, ruhige, fast weiße Flamme. Endlich ergriff ich die Feder und warf mit eigenthümlichen, langen Schriftzügen, die wie schematisierte Gliederthiere aussahen, und in denen Haar- und Schattenstrich merkwürdig deutlich ausgeprägt waren, ein paar Zeilen hin:

     Lieber Ernst!

Ich ersuche Dich, heute auf ein paar Augenblicke zu M. zu kommen. Erweise mir diese Gefälligkeit. Ich bin absolut nicht imstande, eine halbe Stunde allein zu sein.

     Es grüßt Dich

          Dein Knut.

Als ich das Siegel darüberklebte, fühlte ich einen eigenthümlich ranzigen Geschmack auf der Zunge. Ich sandte das kurze Schreiben direct Ernst ins Haus und begab mich in das Restaurant, in [59] dem ich ihn erwartete. Das helle, harte, impertinent aufdringliche Gasglühlicht, die wirbelnden Wolken und Wölkchen guter und schlechter Cigarren und Cigaretten, das alberne, halblaute Schwatzen der bierkneipenden Philister und das idiotische Lachen über die schalsten bons mots und die abgedroschensten Witze irritierte mich sofort beim Eintritt. Ich durchschritt rasch den langen Speisesaal und dann einen engen, mit Teppichen belegten Corridor, zu dessen beiden Seiten rothe Plüschportièren den Eingang zu kleinen Cabinetten abschlossen.

In diesen schlecht gelüfteten, engen Käfigen, in denen mich ein unbestimmter Geruch nach Alkohol und Liebe halb komisch-angenehm und anheimelnd, halb widerlich berührte, war es vollständig dunkel. Der Kellner, welcher wieder diese fatalen, weißen Lichter entzündete, deckte sofort für zwei Personen. Ich aß wenig. Das Warten benahm mir allen Appetit. Ich sah jede zweite Minute auf meine Taschenuhr. Meine nervöse Ungeduld steigerte sich bis zur schmerzhaften Beklemmung. Der ganze Zustand hatte etwas Asthmatisches an sich. Hier war ich jetzt gefesselt und mußte warten. Jede Minute verstrich an sich mit rasender Geschwindigkeit, während eine ganz kurze Zeit, eine schwache Viertelstunde, [60] mir als ein unerträglich langer Zeitraum vorkam. Es war eine vollständige Verwirrung des Zeitbegriffes. Ich hörte Schritte, die Vorhänge wurden zurückgeschlagen. Ernst stand vor mir. Er streckte mir, heiter lächelnd, wie sonst seine kräftige Hand entgegen, die aber immer nur zwei Finger der dargereichten nahm, ohne sie fest zu berühren. Ein origineller Contrast, diese elfenhafte Zartheit und dieser muskulöse von Kraft und Jugend strotzende Körperbau. In seinem Äußern, in seinem Auftreten war er derselbe wie immer, und doch merkte ich sofort eine große, psychische Verstimmung, die sich seiner bemächtigt hatte. Er nahm an meiner Seite Platz, kein Wort des Unwillens darüber, daß ich ihn in seinem Vorsatze, zu Hause zu bleiben, gestört hatte, drang über seine Lippen. Anfangs stockte das Gespräch, aber es kam schneller in Fluß, als ich gedacht hatte; gerade heute hatte ich jene langen Kunstpausen gefürchtet, die dann einzutreten pflegen, wenn man verlegen nach Worten tastet, um einer Stimmung greifbaren Ausdruck zu geben, die uns selbst noch in dämmerndes Dunkel gehüllt ist, uns aber trotzdem oder gerade deswegen unsagbar quält.

Ich hatte ihm eigentlich nicht viel oder gar nichts mitzutheilen, nur daß meine Stimmung, die [61] er ohnehin kannte, heute noch qualvoller sei, denn je. Er fuhr leise über meine feuchten, wirr die Stirne umringelnden Locken. Dann sprach er von sich selber. Es war das erstemal, daß er mir, und ich wußte es ohne seine flüchtig hingeworfenen Bemerkungen, mir allein sein Innerstes erschloß. Den höchsten Triumph meiner Freundschaft, die Macht über ihn, denn sein Leid suchte Schutz und Ruhe bei mir, hatte ich errungen. Ich wußte wohl, daß Ernstens Familienverhältnisse sich in letzterer Zeit gewaltig verändert hatten. Das stolze, alte Kaufmannshaus war in seinen Grundfesten erschüttert. Gewagte, unsichere Speculationen hatten das große Vermögen, über welches Ernstens Vater verfügt hatte, verschlungen. Und jetzt ward der tadellose Credit dieser für prima geltenden Firma in Anspruch genommen. Die Wechsel häuften sich, die Quellen, aus denen der unglückliche Bankerottier schöpfte, begannen zu versiegen. Man wurde mißtrauisch, und endlich war der Ruin ein offenes Geheimnis. Auch hier rollte der Block unheimlich rasch dem Abgrunde zu.



17.

Knut: „Mein Lieber, eigentlich ist die Sache, die Du mir da erzählst, nichts Neues – auch für [62] mich nicht. Es erzählt sich eben über diesen Punkt schon gar vieles herum. Neulich wurde mir bei H., Du kennst den mehr wegen seiner bösen Zunge als wegen seiner Kunst bekannten Bildhauer, die ganze Sache auf den Tisch gelegt. Aber, offen gestanden, ich habe an Derartigem keine rechte Freude. Es ist nicht gut, Dinge zu wissen, die einem im Grunde genommen gar nichts angehen, so lange man sie nicht aus dem Munde der selbst daran Beteiligten erfährt. Das mag vielleicht etwas herzlos klingen, aber es ist mal so. Für die vom Unglücke Betroffenen bleibt es sich gleichgiltig, ob ein paar Leute mehr oder weniger mitleidsvolle Schafsaugen machen. Dieses Mitleid ist ohnehin ein so ein impertinentes Gefühl. So ein hingeworfener Brocken, aber für den Spender hat es mannigfache Vortheile: erstens wird er sofort ein guter Kerl, zweitens ist es schauderhaft billig; du hast aber nicht den geringsten Vortheil davon.“

Ernst: „Mehr könnte ich auch in meiner Lage, wie sie vielleicht bald eintreten wird, nicht verlangen. Und dann bleibt mir immer ein Ausweg –“

Ich: „Der wäre? Ah, je sais cela, Amerika, das schlag Dir aus dem Kopf, verrückte Idee das.“

Ernst: „Na – einfach, wie Du sagen würdest, dem Stoff die Kraft nehmen.“ [63] Ich: „Ernst!“

Er: „Diese Angst an Dir ist mir neu.“

Ich: „Übrigens würde ich – nicht – so sagen, so würde Büchner sprechen, dieser akademische Ritter von der traurigen Gestalt.“

Er (mit dem Finger drohend): „Wieder eins Deiner apodiktischen Urtheile.“

Ich: „Hör mal’, jetzt laß uns ganz vom Philisterstandpunkt aus reden. Leben läßt sich ja doch nur als Philister, Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß ich leben könnte, zugegeben das Unmögliche, daß mich die Gesellschaft unter sich duldete, wenn ich die Producte meines Gedachten in Thaten umsetzte. Vielleicht wird dieses einmal geschehen, aber dann ist es Zufall oder Nervenreflex, dann werden sie mich wahrscheinlich hängen, denn dann habe ich nach der jetzt herrschenden Ansicht ein Verbrechen begangen. Die Sünde aber ist nur im Gedanken. Wird der Gedanke zur That, so ist es eben entweder Zufall, oder der Körper hat das nachgespielt, was der Dichter „Gedanke“ zuerst schuf.

Also vom Standpunkt des Philisters.

Du hast wohl Pflichten gegen Dich selbst, aber die kümmern nur Dich und gipfeln schließlich im Egoismus, im eigenen Wohlbefinden. Und da kann ja [64] endlich sogar ein Kratzfuß vor dem „Sechsläufigen“ zur verfluchten Pflicht und Schuldigkeit werden.

Aber ich glaube. Du stehst nicht so allein da wie ich, der ich unumschränkter Gebieter über mein Thun und Lassen bin. Du hast Vater und Mutter und eine Schwester.“

Er: „Diese Rücksichten sind mir neu aus Deinem Munde.“

Ich: „Ich spreche ja auch nicht zu mir, sondern zu Dir, der Du ja noch immer die Ansichten hast, die „alle Welt haben muß“. Nun, ich für meine Person habe sie nicht, und passe vielleicht eben deswegen nicht in die Welt, oder besser gesagt, diese Welt taugt nicht für mich.

Also – also von Deinem Standpunkte aus, hast Du Pflichten gegen Deine nächsten Anverwandten – bitte, wenn Du schon von Pflichten gegen die Gesellschaft sprichst, so mußt Du jene umso mehr anerkennen. Hier steckt doch ein wenig Naturrecht wenn es auch im Laufe der Zeiten wacker verpfuscht worden ist.

Ich weiß nicht, ich für meine Person habe das „officium“ immer für einen Begriff der alten Römer gehalten, die in antiker Toga den ganzen modernen Hexensabbath getanzt haben – nebenbei bemerkt [65] hatten sie auch den ersten historischen Anarchisten, einen gewissen Herrn von Catilina – aber wenn ich Dir überhaupt eine „Pflicht“ aufhalsen wollte, so wäre es die gegen Deine Eltern. Dein Vater hat sich nun einmal in unglücklichen, meinetwegen auch ungeschickten Speculationen verplämpert, na, ich glaube, der gute Mann hat eingesehen, daß Du wohl nie etwas anderes können wirst, als gentleman like so viel Geld als möglich an den Mann zu bringen. Und das wollte er Dir „sichern“. Nur verteufelt dumm hat er das angepackt.“

Er: „Immer dieselbe Geschichte! Ich hätte zu nichts anderem Talent als zum Lebemann. Nein, das ist nicht wahr. Aber jetzt als Subalterner in ein Bureau hinein und dort für ein paar lausige Pfennige sich schinden, nachdem man von jeher daran gewöhnt geworden, aus der vollen Schüssel zu nehmen und das Geld als etwas Lästiges zu betrachten, das man bald wieder weghaben müsse, – hör, nette Geschichte das. Ich hingegen bin der Ansicht, daß das Ganze eine Feigheit war, die Feigheit, einzugestehen – ich bin am Rande. Statt dessen sind frisch drauf los Wechselchen geschrieben worden, und wir giengen im Sommer nach Scheveningen und im Winter nach Cannes, [66] Rom, Florenz, Mailand etc. und sahen viele artige Dinge. Jetzt ist es natürlich besser, jetzt, wo man sich kaum mehr auf die Straße hinaustrauen kann, ohne fürchten zu müssen, von ein paar lausigen Juden angesprochen zu werden, und dabei immer noch in den Kreisen, die nichts wissen oder sich einfach so unwissend stellen, die alte Komödie spielen müssen.“

Ich: „Na, das letztere ist wohl schnuppe, Komödie spielen wir doch alle! Wir thuen doch die Maske so lange nicht vom Gesichte, bis sie uns förmlich angewachsen ist. Woher auf einmal diese Biedermannicität? Hm?“

Er: „Und dann gar so gleichgiltig kann es einem doch nicht sein, wenn vielleicht eines Tages der Gerichtsvollzieher ins Haus kommt, und die ganze Geschichte mit einem Proceß und ein paar Monaten Gefängnis endet.“

Ich: „Armer Ernst, so weit ist es also. Aber ich meine. Du siehst zu schwarz.“

Er: „Mir könnt’s ja recht sein, aber ich glaube immer, ich fasse die ganze Sache noch zu optimistisch auf. Nun, wir werden ja, vielleicht nur zu bald, sehen, wer Recht gehabt hat, ich oder Du, der Du meinst, das Ganze wäre eine Hallucination.“ [67] Ich: „Davon habe ich nun kein Wort gesagt. Aber ich kenne das. Du kannst Dir eben nur mehr den allerungünstigsten Ausweg denken, insofern ist schon etwas Vorspiegelung dabei. Aber nun laß uns vernünftig reden. Wenn’s zu einem Krach kommt, ruht schließlich und endlich die ganze Sorge für Deine Familie auf Deinen Schultern. Dafür mußt Du latente Kraft ansammeln, um sie im gegebenen günstigen Falle frei zu machen.

Und wenn Du schon mit dem Allerschlimmsten rechnen willst, da, mein Lieber, ist es nothwendig, daß Du mit vielem, was Dir bis jetzt noch als etwas Unantastbares schien, tabula rasa machst, sonst wirst Du in dem kommenden Kampf jämmerlich zugrunde gehen. Stampfe den ganzen modrigen Krempel einer vermorschten Cultur zusammen, das Recht des Stärkeren kann man noch gelten lassen, aber das Recht der „höheren Lebensstellung“ und die Vorurtheile jener, die kein Skelet in ihrer Familie haben, die werden Dir zu schaffen machen. Da hilft nur eine eiserne Stirn, eine Frechheit, als freue man sich über das, was nun eingetreten ist, weil man jetzt ein bißchen anders ist, als diese goldbebrillten Idioten, weil man jetzt etwas durchs Leben zu schleppen hat, weil man dreinhauen [68] muß und kämpfen und ringen, um ein bißchen Luft, ein bißchen Raum, um mit den Ellenbogen ausfahren zu können, den andern direct brutal in die Rippen hinein. Junge, für Dich kann das die Rettung werden, die Rettung vor der Gefahr, das Prototyp eines nützlichen, für die Gesellschaft und für seine Familie im Schweiße des Angesichtes arbeitenden Staatsbürgers zu werden.“

Er: „Ich würde mich aber in das nächstbeste Mauseloch verkriechen, um nur ja von niemandem gesehen zu werden. Ich würde es als eine Frechheit von meiner Seite ansehen, wenn ich noch so wie früher herumlaufen möchte. Das ist entweder eine directe Schamlosigkeit oder ein erniedrigendes Betteln um Mitleid.“

Ich: „Mitleid? Höre mal, ich für meinen Theil spreche überhaupt jedermann das Recht ab, mit jemandem anderen Mitleid oder dergleichen zu haben. Das ist im Grunde genommen eine schauderhafte Impertinenz, wenn es einem auch manchmal wohl thut. Aber so das Experimentivobject für spießbürgerliche Gefühle abzugeben, ne, dafür danke ich bestens. Thu’ mal was, wovor den anderen Banausen graust, schicke ihnen, wenn einmal in die Suppe gespuckt worden ist, gedruckte [69] Karten und theile ihnen das freudige Familienereignis mit, vergiß aber nicht, darunterzusetzen: ‚Mitleid verbeten‘.“

Er: „Man braucht ja gar nicht in dem Lande zu bleiben, wo einem die Scholle unterm Fuß glühend wird. Wenn alle Stricke reißen, gibt’s immer einen Ausweg, hinaus aus dem Neste, fort, fort, weit weg, nach Amerika oder anders wohin, wo einen kein Rattenschwanz kennt. Ich weiß wohl, meine Studien, die eigentlich nur in einem Zeugnis der Reife und einem wohl in Ordnung gehaltenen Index der juristischen Facultät bestehen, helfen mir drüben erbärmlich wenig. Aber da kann ich ja als Kellner in ein Restaurant gehen oder als Stiefelwichser an die Straßenecke, hier – hier kann ich nur standesgemäß verhungern oder mit einer eleganten Verbeugung vor dem „Sechsläufigen“ verschwinden. Und das letztere eigentlich auch nicht so recht. Ich lasse andere zurück, die dies nicht können oder wollen und dann dreimal so unglücklich werden wie ich.“

Ich: „Ganz richtig, bemerkte der Igel und kratzte sich die Schnauze. Das habe ich eigentlich in allem Anfange gesagt. Überhaupt Kräfte sparen. Spannkraft anhäufen, wenn mal die Geschichte zum Platzen [70] kommen sollte, braucht’s einen eisernen Arm, um den verfahrenen Karren aus dem Dreck zu heben.“

Er: „Dazu habe ich auch wenig Lust.“

Ich: „Glaub’ Dir’s, wird auch keine sehr angenehme Beschäftigung sein. Aber um eins möchte ich Dich noch bitten, in Deinem ureigensten Interesse, allerdings auch ein wenig in dem meinigen. Denn ich möchte mir diese Stunde nicht entweihen lassen. Für mich hat so etwas einen bleibenden Wert. Du bist zwar ohnehin verschlossen genug, aber es gibt Einwirkungen, welche dem Schweigsamsten die Zunge lösen können. Sei allem gegenüber ruhig, erzähle niemandem auch nur ein Wort von dem, was zwischen uns gesprochen wurde, niemandem, hörst Du! Auch nicht Fontana.“

Er: „Darüber magst Du beruhigt sein. Ich habe noch keinem Menschen gegenüber die leiseste Andeutung fallen lassen und gedenke es in Zukunft nicht anders zu machen. Dir, Alter, konnt ich’s wohl sagen.“

Ich: „Sage mir, Ernst, aufrichtig, warum hast Du es gerade mir gesagt?“ [71] Er: „Ich weiß nicht.“

Ich: „Warum nicht jemandem andern? Warum gerade mir? Warum keinem Deiner anderen Bekannten? Warum nicht Fontana?“

Er: „Ich weiß nicht. Ich mußte wohl so.“

Ich: „Ernst, Du bist, ja Du bist mein Freund, Dein Vertrauen zeigt mir dies. Bindet mich mehr als hundert Versprechen, welche ich Dir geben könnte. Rechne auf mich, wenn Du jemals meiner bedürfen solltest. Noch mehr, versprich mir dies, gib mir Deine Hand darauf.“

Er reichte mir schweigend die Hand.


18.

Das war entschieden auf Ernstens Seite die Akme seiner Freundschaft gewesen. Mein Gefühl aber wuchs noch immer fort, ich frug nach nichts mehr, dachte an nichts anderes mehr, empfand für nichts mehr, als was mir die Natur eingegeben hatte, für meine Liebe zu ihm. Und gerade deshalb wurde ich immer empfindlicher gegen ihn, reizte mich sein gutmüthiger Spott bis zur Wuth, kränkte mich oft das nichtigste, gleichgiltigste Wort von ihm aufs tiefste; und ihn mochte dieses Benehmen wieder reizen, ihm kam diese nervöse Ungeduld, dieses Herumzerren und Herumnörgeln komisch vor. Ueberhaupt erlahmte jetzt die Intensität seiner Zuneigung zu mir unheimlich rasch. Einerseits mochte ihn die [72] allzugroße Offenheit gereuen, die er an jenem Abende mir gegenüber gezeigt hatte, allzugroß für ihn, dem Verschlossenheit ein integrer Bestandtheil männlichen Wesens erschien, andrerseits mochte er nachträglich die Empfindung haben, es wäre besser für ihn gewesen, das alles allein zu verwinden, und sei es zehnmal so schwer und bitter. Dann mußte ich damit rechnen, daß Ernst von jeher das unleidlich gespannte Verhältnis zwischen Fontana und mir im höchsten Grade unangenehm gewesen war. Er hätte ganz gut vermittelnd eingreifen können, denn ich wäre ihm zuliebe nachgiebiger gewesen, als sonst in meiner Natur lag, und Fontana hätte er leicht herumbekommen, nicht weil dieser Vernunftgründen zugänglich war, denn er verschloß allem, was nicht nach seiner boshaften Starrheit roch, seine Ohren, aber weil er sich an Ernst klammerte, wie eine Klette und gefürchtet hätte, vielleicht von dem brüskiert zu werden, dem er nachkroch wie ein geprügelter Hund. Jetzt war es aber zwischen ihm und mir zu einem offenen Bruche gekommen.

Wir waren alle zusammen auf einem Vorstadtballe gewesen. Ich machte mit Ernst meine cynischen Glossen über die verschiedenen Paare, über die mehr [73] oder weniger versteckt hervortretende Sinnlichkeit. Aber diese blasierte Ironie, dieses launisch-abgelebte, überlegene Lächeln auf unseren Lippen war ein wenig Neid und Bedauern über unsere nervöse Ermattung.

Als ich Ernst auf die Schulter klopfte und zu ihm scherzend sagte:

„Wie genügsam doch diese Jugend ist! So ein dickes, nach allen möglichen Küchengerüchen duftendes Frauenzimmer keuchend ein paarmal durch den niederen Saal zu schleppen, bis ihnen der Schweiß aus allen Poren tropft, und sie dünken sich selig, diese Genußmenschen des Samstags, die jeunesse dorée der Arbeiterviertel, puffte er den Rauch seiner Nestor Gianaglis in kleinen Ringelchen vor sich hin und entgegnete mit resigniertem Lächeln: „Wir haben eben zu früh angefangen.“

Fontana tanzte, bis ihm seine Glotzaugen aus den Höhlen zu springen drohten, und dampfend vor Schweiß stelzte er mit den verschiedenen, in schreiende Farben gekleideten, preiswürdig geschmacklosen Frauenzimmern durch den Saal, eine Miene zur Schau tragend, als gienge er mit seinem noch unbezahlten, aber schon etwas schmierigen Frack zu jener bereits mystisch gewordenen, ersten Staatsprüfung, [74] mit der er seiner Tante, einer gutmüthigen, aber gänzlich unerfahrenen Person, die darbend abgesparten Groschen schon seit einer Reihe von Jahren herausschwindelte.

Wir zwei zogen uns bald in ein Zimmer zurück, das einige Treppenstufen höher lag als der bereits mit allen möglichen Dünsten, dem Rauche schlechter Tabaksorten und den scharfen, gemeinen Gerüchen von mit ranzigem Fett bereiteten Speisen erfüllte Tanzsaal und tranken mitsammen eine Flasche Rothspohn, der gerade leidlich war, und den wir, weil wir Röcke ohne Fettflecken aus gutem Stoff und von englischem Schnitte trugen, als „echten Marsala“ bezahlen mußten. Kurz darauf lümmelte sich der norddeutsche Ladenschwengel zu uns, der bereits Fontanas Intimus geworden war, weil er ihn „Herr Doctor“ nannte und gelegentlich, wenn der Herr Doctor so voll war, daß er nicht mehr kriechen konnte, über die Treppen in seine im dritten Stockwerk gelegene Wohnung hinaufbugsierte.

Die Verblödung und der auf nichts basierende Größenwahn, die frech gewordene Paralyse reichten sich brüderlich die Hand.

Wir brachen aus. Es war spät geworden.

Zunächst begab sich die ganze Gesellschaft ins [75] Kaffeehaus. Fontana gieng Arm in Arm mit dem Buchführer einer großen Seidenfirma, einem dicken Sachsen, ein sonst ganz gemüthliches, fideles Haus, der aber, wenn er ein wenig zu viel hinter die Binde gegossen hatte, schrecklich empfindlich wurde. Sein Begleiter unterhielt ihn, noch mehr aber schien er sich selbst zu amüsieren, denn seine ziemlich lauten Reden unterbrach nach jedem Satz ein wieherndes Gelächter. Er unternahm soeben einen seiner beliebten Ritte ins romantische Land auf dem Borstenthiere. Ich war gewiß nie ein Prüder. Im Gegentheile, ich liebte stets das Cynisch-Freche, weil meine innerste Natur zum Verneinen, zum Spötteln, zum Mephistophelischen hinneigte. Aber dieses Schwein paukte in einemfort Moral und wühlte dabei derart im Dreck, daß sein letzter Gedanke inficiert wurde, der etwa noch nicht von der Stickluft der Kneipe durchstänkert war.

Im Café setzten sich die Herren an ein paar runde, aneinandergerückte Marmortische.

Wir giengen zum Spieltisch, Ernst, ich, Fontana und ein dicker Mediciner mit einem unendlich geistlosen, aufgedunsenen Castratengesicht, der auch zu den Lieblingen Fontanas zählte und dafür das mehr als zweifelhafte Vergnügen in den Kauf [76] nehmen mußte, sich von dem schmierigen, stets betrunkenen, stets halb wahnsinnigen Renommisten auf seinen wanstigen Bauch und seine unförmlichen, schwammigen Schenkel klopfen zu lassen. Mich ekelte es oft derart, daß es mich würgte. Systematisch ritt sich Fontana in eine Perversität hinein, zu der ihn seine früheren Leidenschaften ohnehin prädestiniert hatten.

Während wir spielten, begann der norddeutsche Ladenschwengel mit seiner versoffenen, weinrauhen Stimme über mich und mein Benehmen loszuziehen. Es riß mir plötzlich die Geduld, nicht, daß mir das Urtheil dieses geschniegelten, kritisch ganz impotenten und incompetenten Laffen auch nur im geringsten nahe gegangen wäre. Aber ich war gereizt, irritiert bis zur krankhaften Erregbarkeit. Mit schneidender, scharfer Stimme reagierte ich. Sofort trat Ruhe ein. Man zog jetzt im Flüstertöne über mich los. Fontana machte eine bissige Bemerkung. Eine ungemein bornierte Schadenfreude leuchtete aus seinen gestielten Krebsaugen. Er war ganz selig, daß ich nach seiner Meinung eins abgekriegt hatte, denn er selbst traute sich in seiner kriecherischen Feigheit nie offen an mich heran. Die Bestie biß mit eitrig-faulem Zahn mir tückisch, ungesehen, von hinten in die Waden. [77] Ernst meinte sehr ruhig: „Knut hat Recht.“

Ich begann nervös zu spielen, dabei machte es Fontana mir unmöglich, die Points zu zählen. Er spielte direct trottelhaft, bildete sich aber natürlich ein, auch in dieser Kunst ein Meister zu sein.

Ich warf die Karten hin, heftig, so daß Couer-Aß Fontana ins Gesicht sprang, zahlte und schickte mich an, das Local zu verlassen. Bevor ich auf die Straße trat, sagte ich den Herren, die mich mit ihren übernächtigen, versumpften Gesichtern blöd anstierten, meine Meinung. Einige versuchten, eine Entschuldigung zu stammeln, aber die Worte wurden durch ein rülpsendes Kollern erstickt. Der dicke, „gemiedliche“ Sachse wollte einen Streit anscheinend vermieden wissen und meinte, er hätte eine beleidigende Rede über mich überhaupt nicht zugelassen. Als ob mich dieses Hundepack je hätte Beleidigen können! Ich drückte ihm die Hand, und ein paar nichtssagende Worte meinerseits sollten ihn beruhigen. Dann wurde mir die ganze Geschichte plötzlich ungeheuer gleichgiltig, sogar Fontana, der einen feigen, scheuen, boshaften Seitenblick auf mich warf und, da er sich nicht allein wußte, ziemlich laut den etwas eingeschüchterten Bengeln Recht gab. Ich drehte mich aus den Hacken um und verließ den [78] bereits bis zur Unerträglichkeit dunstig gewordenen Raum.

Ernst, der dicke Mediciner und die ruppige Bestie folgten mir auf dem Fuße nach. Draußen erfaßte mich plötzlich wieder eine wilde, unerklärliche Wuth. Meine sonst so klare, ruhig höhnende Stimme klang zitternd, heiser und rauh, als ich mir jede Einmischung seitens eines Unberufenen verbat.

Fontana entgegnete mir mit einer ans Fabelhafte grenzenden Unverschämtheit, er habe aus Mitleid mit mir so gehandelt, denn er habe durch seine Intervention es für möglich machen wollen, daß ich noch weiter in dieser Gesellschaft verkehren könne.

Meine Antwort war wohl rücksichtslos, sie berührte einen Punkt in meines Widerparts schmutziger Vergangenheit, der ihn schmerzte, so bar alles Ehrgefühles er auch war, und alle seine Moral und Entrüstung schurkische Heuchelei. Er wußte sich in seiner tollen Raserei nicht anders mehr zu helfen, als daß er mir ein unsäglich gemeines Wort zurief, dessen sich selbst betrunkene Kutscherknechte schämen würden, wenn sie nicht gerade auf einem selbst bei dem verbittertsten Proletariate selten vorkommenden niedrigen Grade der Feinfühligkeit und des Anstandes stehen. [79] Wieder schloß mir, wie schon so oft, der Ekel den Mund. Die tiefe Verachtung, welche ich vor diesem Menschen hegte, hatte es oft möglich gemacht, daß ich irgend eine Beleidigung seinerseits ertrug, welche mir niemals ein anderer ungestraft hätte zuschleudern dürfen. Aber diese durch ein Würgegefühl in der Kehle erkaufte Ruhe hielt nur einen Augenblick an, nur eine kurze, unberechenbar kurze Zeit, kaum eine Secunde. Mir war, als geriethe mein Körper in Vibration, meine Nerven guckten und krümmten sich, und ich fühlte diese Zuckungen und Krümmungen und feinsten Schwingungen wie einen stechenden, athembeklemmenden Schmerz. Ich mußte losbrechen, der Streit artete in kurzem zu einem widerlichen Schauspiele aus. Die Leidenschaften, auf ihre höchste Spitze getrieben, prallten gegeneinander. Der lang verhaltene, täglich geschürte Groll machte sich endlich Luft.

Fontana fühlte meinem ätzenden Hohne gegenüber, daß er der Schwächere sei. All der bitteren Ironie, die vor Ernst sein ganzes Lügengewebe zerriß und ihn in seiner jämmerlichen Nacktheit zeigte, all meiner grausamen Zergliederung seiner niedrigen psychischen Organisation gegenüber war er machtlos, fand er kein anderes Wort als eine Unflätigkeit, [80] wie sie betrunkene Zuhälter einander an den Kopf schleudern.

Als wir vor seinem Hause angelangt waren, gab er mit einer gewissen, ganz grundlosen Protzenhaftigkeit, welche er sich in letzterer Zeit angewöhnt hatte, dem dicken Mediciner die Hand und verabschiedete sich kriechend wie immer von Ernst. Dann wollte er auch mir, als sei nichts vorgefallen, die Hand reichen. In dem Augenblicke riß mich Ernst fort, er fühlte wohl instinctiv, ich sei am Rande. Ich hatte meinen Feind am liebsten angespuckt. Ich sprach mich zum erstenmale hart mit Ernst. Mich ärgerte seine völlige Theilnahmslosigkeit, er hätte am liebsten Fontana entschuldigt. Ich ließ ihn plötzlich nach einem kurzen, kalten Gruße stehen. Zum erstenmale stieg eine Bitterkeit in mir auf, zum erstenmale wollte ich nicht mehr ausschließlich geben, ich wollte auch empfangen. Ich empfand seine Schuld, seine Verpflichtung mir gegenüber. Ich hätte den, der Ernst so gemein angegriffen hätte, niedergeschlagen. Er überwand sich förmlich zu dem kühlen Zugeständnis, er könne das Vorgehen Fontanas nicht billigen.

Seit dieser Nacht wurden wir einander gegenüber mißtrauischer, kälter. Ernst fieng an, sich von [81] mir zurückzuziehen, erst ganz unmerklich. Dann verhielt er sich jedoch immer schroffer, immer herausfordernder. Er suchte absichtlich den Verkehr mit Fontana mehr wie früher auf und vermied den meinen. Seine früheren liebenswürdigen Neckereien verwandelten sich in beißende Ironie.

Anfangs litt ich blutig. Ich durfte ihn nicht aufgeben, durfte ihn nicht verlieren. Wieder zurückfallen in jene Dumpfheit, jenes langsame, hoffnungslose Sterben der nach Leben schreienden Seele, wieder die alte Qual, einsam einherschreiten zu müssen, einsam unter einem tobenden Schwall, einem zuckenden Strudel von tausenden von Menschen, die einen alle mit so kalten, fremden Leichenaugen anstarren. Ich kämpfte mit aller Gewalt gegen meinen Stolz, der mir gebieterisch zuraunte: „Laß ihn seiner Wege ziehen!“ Umsonst!

Die Leidenschaft, welche mich an ihn kettete, verschwand zwar nicht mit derselben Plötzlichkeit wie seine Sympathie für mich, aber sie wurde krank und müde und sehnte sich nach dem Erlöschen. Und bald fühlte ich es, sie wurde unheilbar krank. Es gab für sie keine Rettung mehr. Dafür kam ein neues Stimulans über mich, das mich in ein fast lustiges Excitationsstadium versetzte. Ein dämonischer, ein [82] unheimlicher, wahnsinniger Haß gegen Fontana fieng mich zu beherrschen an. Ich lebte mich ein in den Gedanken, ihn zu vernichten. Ich berauschte mich an meiner Rachbegierde. Alles Grausame, alles Unmenschliche reizte mich. Ich begriff urplötzlich die Perversität derjenigen, welche sich an den ausgesuchtesten Qualen anderer weiden. Ich vergötterte die Verthierung und betete Nero an.

Und eine unbekannte Entschließung trieb mich fort. Ich mußte, mußte Mittel und Wege ersinnen, mir da einen vom Halse zu schaffen, um dann mit Ernst leichtes Spiel zu haben. Auch ihn dann wegschleudern! Dann ganz, ganz allein auf der düstern Höhe der Gewalt, der schreckenlosen Ichsucht thronen, allein, wert, gemieden und gehaßt zu werden. Ein Caligula, ein wahnsinniger Cäsar der geistigen Größe, der tyrannisch-königlichen Rücksichtslosigkeit.

Denn ich bin der Einzige, und mein Wille ist mein Eigenthum, mein unendlicher Wille.

Warte, du blasses Bürschlein, du bist nicht der, der mich ungestraft verwunden kann, du sollst mir meine Liebe theuer zahlen!

Und wer kann mir Halt gebieten, wenn meine Rache mit ihrem gifttriefenden Schwerte mir meinen Weg vorschreibt. Wer? Wer? Warum mir die [83] Qual, weiterleben zu müssen ohne Ruhe, ohne einen befreienden Athemzug, weil einer, den ich in ehrlichem Kampfe nicht besiegen kann, meinen Haß nicht einschlummern läßt. Diesen blutigen, quälenden Haß!

Mord! Meuchelmord!

Plötzlich sprach ich das Wort ganz ruhig aus, ohne fürs erste etwas dabei zu denken, immer nur so für mich hin, ohne den Lauten einen Sinn unterzulegen, ohne mit dem gesprochenen Wort eine Vorstellung in meinem Innern zu erwecken. Ich freute mich an der Aneinanderreihung der Consonanten und Vocale, an dem Fremden, Barocken, das jedes noch so häufig gesprochene Wort einer Sprache gewinnt, wenn wir es so lange hintereinander aussprechen und so oft wiederholen, bis uns die Vorstellung, welche wir damit verbinden, verloren geht.

Und dann ließ es mich nicht mehr los. Mit unförmlicher Klarheit, in grellen, ewigen, scharfen Contouren stand das ganze Bild vor meiner Seele, hart, rauh, aber mit verblüffender Sicherheit gezeichnet.

Und ich wußte auf einmal ganz genau, ich werde so handeln, jetzt, heute, auf der Stelle oder morgen, wenn ich Gelegenheit haben werde. Da [84] schwand mein Haß gegen Fontana und meine Erbitterung gegen Ernst.

Ruhig wollte ich morden, ruhig, voll Seelenfrieden.


19.

Seitdem wartete ich nur auf eine Gelegenheit. Ich ließ Fontana nicht mehr aus den Augen. Mit Ernst war es zu einer, anscheinend letzten Auseinandersetzung gekommen. Er hatte sich mir gegenüber in einer Gesellschaft derart taktlos benommen, daß selbst Fontana, der sich ausnahmsweise in halbwegs zurechnungsfähigem Zustande befand, das Peinliche, das nicht nur für mich, sondern auch für die ganze Umgebung bestand, fühlte, und mir mit ein paar Worten, welche den unangenehmen Eindruck, den die Situation bei den Unbetheiligten hervorrief, zu Hilfe kam.

Im nächsten Augenblicke haßte ich Ernst. Er, den ich so sehr geliebt hatte, that mir die Schmach an, von meinem ärgsten Feind gleichsam eine Wohlthat dankend quittieren zu müssen.

Aber sofort kehrte sich alle Wuth und alle Verbitterung gegen den Anstifter des ganzen Unheils.

Mord! Mord! schrie alles in mir.


[85] Und ich sah seine braune, stumpfe, rauh behaarte Hand wie die eines Affen über die Tischkante hängen, deren gedunsene, plumpe Finger mit den schmutzigen Nägeln eine brennende Cigarre drehten.

Und alles stand mir sofort klar.

Mich kitzelte es am Rücken, daß es mich schüttelte. So einfach, so unendlich einfach war also ein Mord. So einfach, so simpel wie das Wort selbst mit seinen vier Buchstaben und dem einzigen, dumpfen Vocal.

Ich sah auf dieser rohen Bauernhand die mit Blut gefüllten, subcutanen Venen strotzend und höckerig hervortreten. Ein feines Capillarrohr aus Glas mit einer nadelfeinen Spitze in eine dieser Blutadern getrieben, ein – zwei – drei tiefe Athemzüge, das Rohr an die Lippen – und schon!

Schon wurden Luftblasen in die Blutbahn geschleudert. Der Blutstrom verschleppt sie innerhalb des Körpers, und auf diese Weise entsteht die sogenannte Luftembolie. Da der Druck in den großen Venenstämmen, wenigstens zeitweise, negativ ist, wird bei Verletzungen solcher nicht selten Luft in sie gesaugt und gelangt mit dem Blut, dem rothen, prickelnden Blut in den rechten Ventrikel und zum Theil in die Lungen. In dem Ventrikel bleiben größere Luftmengen stecken, weil durch die Contraction des [86] Herzens die elastische Luft zwar comprimiert, nicht aber weiterbefördert werden kann, und diese Luftblasen haben durch Circulationsstörung einen letalen Ausgang zur Folge.

– – – – – – – – – –

Und ich betrachtete unausgesetzt diese braune, häßliche, an den Fingerspitzen von Tabaksaft gelb gefärbte, angebeizte Hand mit den schlauchartig geschwollenen, subcutanen Venen, diese Hand, die über die Tischkante hieng und mit ihren Fingern eine schwelende Cigarre drehte.


20.

Eine feucht-warme Thaunacht. Schwere, laue, glitscherige Tropfen fielen von den mit zerschmelzendem Schnee belasteten Ästen der Bäume, welche wintermatt über die Gartenmauern hiengen. Die Gasflammen brannten wie Todtenlichter, trüb und mit kleinen, schmutzigen, flackernden Flämmchen.

Ich schritt durch eine öde, größtentheils von Gartenmauern eingefaßte Gasse dahin. Breiiger Schnee bedeckte meine Schultern, wo er sich ganz auflöste und zwischen den Irrwegen meines breiten Astrachankragens keinen Ausweg mehr fand, sondern sich verirrte und allerhand kleine Seen und Tümpel [87] bildete, die endlich überströmten und über meine Brust herunterflossen. Die Cigarette schwelte und verkohlte, statt zu verbrennen. Übrigens war ihr Papier aufgeweicht und rissig geworden.

Der klebrige, braune Schnee pappte sich in großen, breiten, dünnen Schollen an die Fußsohlen und drang zwischen den Nähten des Schuhwerkes hindurch. Nirgends ein Wagen. Ich schritt kräftig aus. Am Ende der Gasse, links, schimmerte eine Reihe großer, mit rothgelben, zugezogenen Vorhängen bedeckter Fenster in ziemlich grellem, aber unbestimmten Licht. Ich überschritt die Straße, vorsichtig den unzähligen Pfützen ausweichend, und betrat das große, aber um diese Zeit stets leere Kaffeehaus.

Ich bestellte einen Absynth. Das Local schien ganz leer zu sein. Nur am Ende im Dunkel schien einer an einem runden Marmortischchen zu sitzen. Sein Kopf lag, auf die Fläche der linken Hand gestützt, schwer auf der Platte.

Diese dumpfe Stille wurde mir unerträglich. Ich wollte helle, leise, weiche Klänge hören.

Auf einen Wink deckte der Garçon das Billard auf, gerade gegenüber dem anscheinend schlafenden Manne. Er drehte den über dem Brett schwebenden [88] Gasarm und entzündete ein grelles, weißes, schreiendes Licht.

Die leisen Töne, die jedem Stoße folgten, schläferten mich in eine süße Vergessenheit ein.

Ein tiefer, gröhlender Seufzer meines Gegenüber weckte mich. Er schien fort zu schlafen. Etwas Unbewußtes, Impulsives trieb mich an, näher zu treten, ihn zu betrachten. Ich warf den Queue auf das grüne Tuch.

Abmarkieren!

Ich stand dem Schläfer gegenüber. Die rechte Hand hieng über das Tischchen, so dass die subcutanen Venen infolge des Blutandranges stark angeschwollen waren. Ja, das war der schmierige, bierbefleckte, blaue Rock, das seine faden, braunen, borstigen Haare und das der ganze ekelhafte Biergeruch, den Fontana um diese Zeit stets ausströmte.

Im selben Augenblicke stand die Hallucination, die mich wochenlang verfolgt hatte, wieder vor mir, aber diesmal als etwas Faßbares, Reales. Undich begann sogleich zu handeln, wie unter Autosuggestion.

Alles über Bord, was mir hindernd in den Weg tritt! Zuerst du infame Idee der Menschlichkeit, feige Furcht: Du sollst nicht morden! Und warum?

[89] Recht, Gesetz und Sitte, die Menschlichkeit verbieten es!

Ich aber sage es euch, ich leite alles Recht und alle Berechtigung nur aus mir her.

Ich darf alles thun, dessen ich fähig bin. Ich bin berechtigt, einen Apfel zu stehlen, wie ich Jupiter, Allah, Brahma, Ormuzd stürzen kann – wenn ich’s kann. Wenn ein französischer Grenzgendarm auf einen spanischen Schmuggler schießt, so hält er sich für berechtigt, zu morden, indem er auf eine höhere Autorität i. e. cum iure seine Plempe losdrückt.

Ich bin aber durch mich berechtigt, zu morden, durch mich ganz allein. Unrecht wird es nur, wenn ich mir selbst den Mord verbiete, wenn ich ihn zum Unrecht mache.

Nur zu dem bin ich nicht berechtigt, was ich nicht mit freiem Muthe thue, wozu ich mich selbst nicht berechtige.

Stecke ich denn noch in den Kinderschuhen der Humanitäts-Duselei, oder habe ich die Narrenlappen der pfäffischen Demuth noch nicht abgeschüttelt, so mag mir Sclaven recht geschehen und mein Gewissen soll mich hängen.

Ich, ich allein entscheide in meiner Gottüberlegenheit, ob es mir das Rechte ist. Außer mir gibt [90] es kein für mich verbindliches Recht. Ist mir etwas recht, so ist es recht.

Möglich, daß es darum dem andern noch nicht recht ist, dem gröhlenden Schläfer da drüben, das ist seine Sorge, nicht meine; möge er sich wehren. Und wenn er nicht kann? Ja, nun das ist ganz allein seine Sache, er ist in meine Hand gegeben, hätte er bei Zeiten dafür gesorgt, daß sich dies nicht ereignet hätte. Und ist etwas der ganzen Welt nicht recht, mir aber ist es recht, ich will es, so schere ich mich den Teufel um diese ganze Welt.

So mache ich’s, der ich nun gelernt habe, mich zu schätzen. Denn meine Gewalt geht vor des andern Recht, wenn seine Macht geringer ist, und zwar mit vollem Rechte.

Komm, laß mich dich noch einmal zerpflücken in deiner ganzen Erbärmlichkeit, ehe du ein stinkendes Aas wirst.

Und was weiter? Einer weniger von den moralisch Geisteskranken, welche den eigentlichen Untergrund zu dem Boden bilden, aus welchem die hervorgehen, welche der allweise Vater Staat als Verbrecher auf Nummer Sicher bringt, oder die, welche derlei Individuen schaffen. Der Staat statte mir dafür gebührenden Dank ab.

[91] Da schläft der jammervolle Lebensgaukler in stumpfer Trunkenheit. Um morgen sein Possenleben wieder zu beginnen?

Er rauchte Trabucos und litt dabei Hunger. Der Typus des Monomanen. Er strebte nach der ersten Stelle in seiner Wirtshausgesellschaft und hielt den Schankknechten politische Vorträge. Einer jener unermüdlichen Sprecher, die niemals imstande sind, ihren unversieglichen Redefluß einzudämmen, die ohne logische Gedankenverbindung ins Blaue hineinreden und dann in Zorn gerathen, weil ihre Schlüsse dem widersprechen, was sie sich vorgenommen haben, auszudrücken. Zuweilen ergriff ihn die unwiderstehliche Laune, die Steine des Straßenpflasters, die Dielen in seinem Zimmer zu zählen oder den stieren Blick unausgesetzt auf die Spitzen seiner plumpen Füße zu heften. Keine Talente, keine selbstschöpferischen Gedanken, nur ein gutes Gedächtnis, das seinen Lippen fortwährend schlecht angebrachte Citate entströmen ließ. Seine Phantasie war oft in reger Thätigkeit, und er verfiel gerade dadurch immer ins Abgeschmackte, Possenhafte und gelangte zu Schlüssen, die vom Universellen aufs Singuläre übergiengen, Unheilbar, wie er war, weil seine Krankheit eine angeborene, eine im Momente der Zeugung vom [92] Vater übertragene war, bildete er sich ein, ein Genie zu sein, während er von diesem doch nur das Krankhafte, Excentrische, nicht aber die schöpferische Kraft besaß. Und mein Muth stieg, weil ich viel Verwandtes mit ihm in mir fühlte, da auch mein Denken, mein Fühlen nicht mehr in meiner Macht war, sondern über mich die Macht gewonnen hatte.

Morde, morde, morde, morde ihn, gebot mir diese Kraft, die mich unaufhörlich weiter stieß und drängte.



21.

Da hielt ich also das bis zur halben Länge in eine Messinghülse gefaßte Glasrohr mit der nadelfeinen, scharfen, durchöhrten Spitze. Und ich ließ mich an seiner Seite, neben dieser braunen, schlaffen, häßlichen Hand nieder in die rothen, abgeblaßten, weichen Sammetkissen, die an den Wänden dahinliefen.

Dann prüfte ich mit den Fingerspitzen die feine Endigung. Ein leiser Druck wird genügen, und zwei, drei tiefe, kräftige Athemzüge.

Fast ohne Widerstand drang das Instrument durch die Haut in die Vene. Ich beugte mich mit halb, wie zum Liebeskuß geöffneten Lippen nieder.

[93] Ein langsamer, tiefer, andächtiger Athemzug schwellte meine Brust. Ich kam mir vor wie ein dem Sonnengotte opfernder Heliogabal.

O, wie süß ist doch der Mord! – – –

– – – – – – – – – –
– – – – – – – – – –

Die Thüre, welche von der Straße hereinführte, ward heftig zugeschlagen. Verworrene Stimmen, die untereinander und zurück durch die geschlossene Thüre hindurch auf die Gasse redeten, schollen an mein Ohr, ohne mich zu berühren.

Plötzlich – da, das war Ernstens Stimme. Und nun stürmten sie alle vorwärts, entledigten sich unter Lachen und Schreien ihrer Schirme, Stöcke, Galloschen, Hüte und Überröcke, occupierten die Billards, bestellten Kaffee, Thee, Bier, Cigarren, Cigaretten.

Das Rohr entglitt meiner Hand, fiel auf den Fußboden und zerbrach mit leisem Geklirr.

Ich hieng meinen Pelz um, stülpte meinen Hut auf und verließ, ohne zu zahlen, ohne zu grüßen, der Zurufe meiner Bekannten ungeachtet, das Local.

Wie mir vor mir selbst ekelte!

Zu schwach, zu feige zum Verbrechen!

[94] Eine zugeschlagene Thür wirft deine ganze, gottähnliche Nichtbeachtung alles dessen, was die Welt gegen dich ausspielen könnte, über den Haufen.

So geh denn zugrunde!

Dir werde dein Recht!


22.

Und nun gab es zwischen mir und Ernst nur noch einen versteckten Kampf, der lediglich darauf ausgieng, die nun unnütze, noch nicht ganz überwundene Leidenschaft vollends zu tödten.

Er begann mich zu hassen, und ich wurde in einem Ocean von unendlicher, idealer, mystischer, transcendentaler, geschlechtsloser Liebe und blutigem Haß herumgetrieben. Bald stürzten die blaßlilafarbenen Wogen dieser süßen, ekstatischen Leidenschaft über mich fort, auf deren Silberkämmen wie bleiche, stumme Seerosen Erinnerungen schwammen, dann stiegen Blutströme bis zu den breiten Hüften, aus denen die Mannbarkeit entschwunden war, seit eine Liebe, eine Eucharistie über mein Ich herrschte, welche dieselbe Kraft besaß, wie jene grenzenlose Hingabe an den gekreuzigten Heiland, der nur Cherubim lieben darf. O, diese Farben, diese Töne, diese Gesichte, die ich sah, hörte und empfand!

[95] Ernst begann zu leiden.

Ich hatte nur noch einen schweren Kampf mitzumachen, nach diesem trat Ruhe ein, eine stumpfe Ruhe, die vielleicht durch ihre soporöse Lethargie diese sterbende Leidenschaft wie einen durch endlose, peinvolle Qualen erschöpften Kranken hätte leise hinüberschlummern lassen, wenn sie nicht noch einmal, bei all ihren Schmerzen gepackt, erwacht wäre, um sich zu Tode zu rasen.

Vorerst kämpfte ich noch einmal den letzten Kampf, aber aussichtslos. Denn nach dem nochmaligen Erwachen meiner Liebe, nach dieser martervollen Agonie, hatte ich alle und jede Kraft verloren, und ich mußte das Sterben meiner zu Tode gehetzten Leidenschaft abwarten, ohne einen Finger rühren zu können. Dieses Sterben, das so entsetzlich war und so lange dauerte, weil die Minuten sich zu Jahren dehnten.

Ich besaß einige Gegenstände von Ernst, kleine Andenken, und während ich für deren Besitzer nicht einmal mehr Haß empfand, da er mir vollkommen gleichgiltig geworden war, wie ein Schuhlappen, begann ich an diesen Tändeleien zu hängen und mich mittelst derselben in der raffiniertesten Art und Weise selbst zu peinigen. Besonders ein kleiner Bierkrug [96] mit einem zinnernen Deckel, auf dessem Rande die Dedication eingraviert war, war es, welchen ich oft stundenlang anstarrte, der mir alle Erinnerungen, welche mir lieb und wert waren, ins Gedächtnis zurückrief. Dieser an und für sich so unbedeutende Gegenstand bewirkte bei mir vermöge associativer Beziehung zu einer meine lebhaftesten Gefühle hervorrufenden Gesammtvorstellung, eine Art Hypnose, einen sehr tiefen, dem bloßen Aussehen nicht zukommenden Eindruck. Diese psychologische Erscheinung erklärte ich mir aus einem associativen Gesetz, dem Gesetz der Beziehung einer Theilvorstellung zur Gesammtvorstellung, wobei das Essentielle die individuelle Gefühlsbetonung der Theilvorstellung im Sinne eines Lustgefühls war, das ich einst empfunden hatte.

Und indem ich diese trockene Erklärung tausendmal wiederholte, ließ mich der Fetisch endlich los.


23.

Ernst kritisierte sich selbst mit einer bösartigen Satire, mit einem giftigen Sarkasmus. Der Verkehr mit ihm wurde immer qualvoller. Eine kalte Höflichkeit, ein maskiertes Lächeln, das freundlich sein sollte und höchstens verlegen, beinahe tölpelhaft [97] erschien, war alles, der ganze Umgang mit mir. Uns beiden war die Entfremdung, die uns auseinander hielt, klar geworden, aber wir waren zu feige, uns dieselbe einzugestehen und uns das trennende Wort ins Gesicht zu sagen. So schleppten wir unsern Gefühlscadaver stets mit uns herum, statt ihn abseits irgendwo zu verscharren.

Die letzten Tage standen wir uns feindlich gegenüber, weil wir uns quälten.

Mein einstiger Freund litt, aber er verschloß sich. Er war krank, und sein Schmerz erpreßte ihm Klagen, die eine eigene, wilde Müdigkeit athmeten, ein Sehnen, ein Fürchten, ein Wünschen und doch wieder ein Kämpfen gegen den Tod. Er ließ sich sterben. Er wollte nicht mehr leben. Eine furchtbare psychische Neurose schüttelte ihn. Ein Verzweifeln am Lebenkönnen. Aber er schwieg.

Ich litt auch, bald, weil ich ihn retten, ihn wieder glücklich machen wollte – atavistische Liebesreste – bald, weil ich mich verdammte, da ich noch – immer meine Abhängigkeit von ihm fühlte, die Fesseln, welche meine erstorbene Liebe zu ihm noch immer um meine Brust schnürten.

Nein, kein Weib, keinen Freund!

[98] Und auf einmal wußte ich klar und deutlich, warum ich Fontana nicht ermordet hatte. Warum nur der große Muth zu diesem Mord fehlte, weil ich nicht frei war, weil mich Rücksichten, Leidenschaften fesselten, vielleicht auch, weil mir noch ein Rest der fluchwürdigsten alter Schwächen, ein latenter, verborgener Rest von Mitleid geblieben war.

Nein, kein Weib, keinen Freund!

Keine Leidenschaft, keine Liebe, keinen Haß, kein Ehrgefühl, keine Rache. Nur einen Drang, einen heiligen, großen Drang nach schrankenloser Zerstörung.

Weg mit dieser Welt, die mich anekelt, weg mit ihr, weil sie mich anekelt. Weg mit dieser giftigen, verpesteten Umgebung, in der alle Triebe verkümmern, alle Leidenschaften verkrüppeln!

Blut und Trümmer, der riesige Schutthaufen einer zerschlagenen, zerschmetterten Welt, die hingemordete Leiche eines altersschwach gewordenen, verblödeten Ungeheuers. Und aus diesen faulenden Gliedern, aus diesem todten Riesenaas soll ein neues Leben sprießen, ein Leben mit leuchtenden, hellen Farben, mit starken Trieben, mit nie zu sättigenden Leidenschaften, ein Leben des reinen Kampfes, weil Kampf die Freude und das Schöne ist.

[99] Und wenn die Menschen nicht mehr imstande sind, mit ihren Leichen diesen Riesendüngerhaufen zu thürmen, dann hinweg mit allen von ihnen, auch mit den letzten, bis nur ein todtes, ewig schweigsames Trümmerfeld bleibt ohne die geringste Stimme des Lebens, ohne Seufzer, ohne Sehnsucht, ohne Qual und ohne Freude.

Dann fielen die Tage wie bleiche Blätter, und die endlosen Mächte mit ihren blassen Gesichtern und den schwarzen, schleppenden Schleiern ums Haupt schritten langsam, o so langsam an nur vorbei.

Kein Ende!

Und dann kam immer dieselbe Vision, so gegen Morgen. Ich sah Fontana mit seinem aufgedunsenen Alkoholgesicht, mit seinem schwammigen, eklichen Bauch in einem kleinen Garten sitzen, in einem Spital für Unheilbare, von der Gicht verzogen und verzerrt. Knorrige Geschwülste, wie die Auswüchse der Rinde einer alten Eiche, spannten die rothe, glänzende, mit weißen Schüppchen bedeckte Haut um die Gelenke. Seine Füße waren verkrümmt, wie zertrümmerte Hundepfoten, und auf seinen Knien lagen die Hände, diese scheußlichen, rothen, schuppigen Hände in ihrer breiförmigen Unförmlichkeit, an jedem Gliede verknotet, die Nägel verkümmert, zum [100] Theile ausgefallen. Und der ganze Körper schien versteinert, in einer fallenden Lage, nach vorne, mit einer sanften Neigung auf die linke Seite.

Und ich ihm gegenüber mit dem blödsinnigen Lächeln eines Paralytikers, dem der Speichel unaufhörlich – tropf, tropf, tropf – aus dem gelähmten, linken Mundwinkel floß.

Es reizte mich schließlich zu einer sinnlosen Wuth, dieses Bild der ewigen Abhängigkeit, dem Verhaßten machtlos gegenüber in einen Stuhl gebannt, unfähig, durch einen Druck der Hand sein Leiden über ihn heraufzubeschwören oder zu vermehren, ewig ihm gegenüber mit einem blöden Lächeln auf den vom Speichel angeätzten Lippen.

So glaubte ich auch an eine Hölle.

Und mit minutiöser Sicherheit verfolgte ich diese Vision bis zu ihrer embryonalsten Gestaltung und stöberte ihren Urschleim auf.

Da war sie, diese laue Nacht, welche ein Föhn durchtoste. Ich schritt nach Hause und begegnete Fontana mit seinem dicken Mediciner einträchtig Arm in Arm daherwackelnd. Des einen Glotzaugen starrten in erbärmlich viehischer Besoffenheit auf das flimmernde Pflaster, während er bei jedem Schatten[WS 1] eines Laternenpfahles seine Beine hoch hob, in der [101] Meinung, eine Lache zu überspringen, der andere trottelte mit der Gutmüthigkeit eines dummkollerigen Karrengaules neben ihm einher, mit seinem von schlappen Fettwülsten gepolsterten Schweinebauch und seinem depravierten Faungesicht, dem Gesicht eines alten, verblödeten Faun.

Und seitdem, pfui heiliger Teufel, ließ mich durch Monate diese Dreckfratze nicht los.


24.

Eines Nachts hatte ich einen absonderlichen Traum, der mich merkwürdig erschreckte und beunruhigte. Ich hatte mich bald zu Bette gelegt, schlief aber erst gegen Mitternacht ein. Es war mir, als ob ich aus sehr weiter Ferne Harfentöne hören würde, und plötzlich befand ich mich in Kopenhagen. Ich kam von Frederiksborg herein und schritt langsam durch die Vesterbrogade rechts am Tivoli vorbei und an den häßlichen Planken, die den Neubau des Rathhauses umgeben. Der schlanke Thurm ragte hoch in die unendlich klare Luft. Dann bog ich durch die Rathhausstraße gegen den Hafen hin ab, schlenderte am Thorwaldsen-Museum vorüber über den Schloßplatz, bei der Börse vorbei gegen die Knippelsbro. Vor der Börse blieb ich stehen. Ich [102] habe immer diesen herrlichen Bau im Stile der flandrischen Renaissance geliebt. Dann winke ich den vier Drachen zu, welche den Thurm des Gebäudes krönen, indem sie, auf ihre Tatzen gestützt, den Hinterleib etwas in die Höhe heben und ihre langen Schwänze steil-aufwärts ineinander verringeln. Ich schöpfte tief Athem. Der Wind wehte von Malmö her, von der schwedischen Küste. Ein lauer, lebenserweckender Frühlingswind. Eine so feuchte, linde, geile Luft schmeichelte über dem grünlichen Wasser des Hafens hin, um die Schiffe und in die Straßen und Plätze hinein, die ziemlich menschenleer und stille waren. Vor der Börse stapelte man Ballen mit Fellen auf, die aus den grönländischen Colonien gekommen waren. Eine Dame im blauen Mantel gieng an mir vorüber. Sie führte ein kleines Mädchen an der Hand, das einen großen, grünen Ball mit einem Affen darauf gegen seine Brust drückte und ungemein wichtig drein sah. Dann stand ich wieder vor der Christiansborg und sah aus den rauchgeschwärzten Sälen durch die Höhlen des ehemaligen Fensterwerks einen Vogel herausfliegen, gerade auf die Gebüsche zu, die den Schloßplatz mit ihrem ersten keuschen Frühlingsgrün so lieblich zieren. Da war mir’s, als gienge Ernst vorbei, er trug [103] einen langen, dunklen Rock und einen weichen, grauen Hut und war sehr blaß im Gesicht. Er kam von der Knippelsbro her und schritt gegen die Höibro zu. Er gieng rasch an mir vorbei, wandte aber sein Gesicht nach rechts und deckte die Hand über die Augen. Das verwunderte mich sehr, aber noch während ich darüber nachdachte, wie er wohl hieherkommen möge, und warum er mir ausweiche, stand ich hoch oben am runden Thurm und blickte über die Stadt hin, die heute rein und klar vor mir lag. Draußen glitzerte im Sonnenschein das Meer. Aus dem Fort von Trekover stieg bläulicher Rauch auf. Mir gegenüber schimmerten im ersten Stock eines ansehnlichen Gebäudes die großen Fenster des Restaurants Alaska in der Sonne. Durch die Krystallgade fuhr ein schwerbeladener Wagen. Auf einmal wurde ich in der Zeit um mehr als fünfzehn Jahre zurückversetzt. Ich stand mit einem Schulkameraden, den ich einst gerne gesehen hatte, auf der Plattform des Thurmes. Die Mutter hatte jedem von uns 10 Öre gegeben, und wir waren ganz selig, so hoch heroben über den Dächern zu sein und draußen das Meer glitzern zu sehen und die Inseln. Dann, als wir uns sattgesehen hatten, stiegen wir über die Treppen und liefen die mit [104] Klinkern gepflasterten Gänge hinunter, die im Innern des Thurmes an Stelle einer Stiege spiralig bis zum Ausgange führen. Da gieng wieder Ernst an mir vorüber, er schritt etwas vornüber gebeugt und blutete im Gesicht. Und er sah mich wieder nicht an. Als ich an der Universität vorbei zur Frauenkirche kam, nahm ich meine Mütze ab und trat ein. Da war’s aber wieder gar nicht die Frauenkirche, sondern die Dorfkirche von Byrum auf Laesö, wo ich geboren bin. Und in der Mitte der Kirche stand ein schwarz angestrichener Sarg, in dem lag ein junger Mann, der wie Ernst aussah, er hatte die Hände über der Brust gekreuzt und ein weißseidenes Tuch um den Hals geschlungen, welches voll rother Flecken war. Aus dem Seitenschiff der Kirche aber kam meine Mutter auf mich zugegangen in einem schwarzen Kleid, und lächelte und grüßte mich freundlich. Da fiengen vor der Kirche viele hundert Nachtigallen zu schlagen an, und durch die schmalen Fenster brach die Sonne und warf große, lichte Kringel auf die Seitenwände des Sarges und das Antlitz des Todten. Meine Mutter aber streichelte meine Wangen und sagte plötzlich sehr traurig zu mir nur zwei Worte: „Min Lev“ und kniete sich hin. Ich ließ mich neben ihr nieder. Und sie begann [105] mit lauter und mir fremder Stimme das Vaterunser zu sprechen. Und bei der sechsten Bitte: „Und führe uns nicht in Versuchung“ wachte ich auf. Ich lag schweißgebadet am Rücken. Es war noch tiefe Nacht. Auf der Straße rasselte ein Wagen vorüber. Dann war es wieder ganz still. Und gegen Morgen begann es zu regnen. Da schmolz der Schnee und nun fieng es an, langsam Frühling zu werden.


25.

An einem kühlen Aprilabend saßen wir in einer rauchigen Gasthausstube, an der Grenze zweier Vororte, an einem leidlich anständig gedeckten Tisch. Ich war nur leiblich anwesend, mein Geist bewegte sich in einer eigenthümlich-barocken Traumwelt, fern von all dem, was ihn tagsüber bewegte und quälte. Es war ziemlich ungemüthlich. Die vor Fontana in Ehrfurcht ersterbende Idiotengemeinde, welche hier allabendlich sich den Schweiß mit Bier hinunterspülte und den Wanst mit thierischem Behagen vollpfropfte, empfand vor mir eine Art kindischer Verachtung. Mich zog der Zwang der alltäglich durch Monate geübten Gewohnheit her, und ein unbestimmtes Gefühl, das mich antrieb, Ernst zu beobachten, obwohl es mir schon gleichgiltig [106] geworden war, ob er litt oder nicht, gerade so gleichgiltig, wie wenn er Bier trank oder Wein.

Fontana schielte, mit den Augen zwinkernd, nach mir herüber. Sein neuester Sport war, seinen Freunden und Bekannten und Bewunderern gegenüber mich als Vollblutsemiten zu declarieren, das machte mir Spaß. Aber es fieng nachgerade an, langweilig zu werden.

Die Idioten schwiegen beharrlich. Meine Anwesenheit schlug sie vor ihre Wasserköpfe. Umso getragener docierte Fontana mit großen Handbewegungen, von Zeit zu Zeit ein schmutziges Taschentuch über seine nassen, schorfigen Lippen führend.

Ernst stand früh auf. Er fragte mich, ob ich ihn begleiten wollte. Seit Wochen hatte er es vermieden, mit mir allein zu sein.

Ich nickte bloß, nahm meinen Überzieher vom Haken, und dann alle diese rauhen oder schwammigen und feuchten, unangenehmen Hände in die meinen und gieng. Wir schritten lange schweigsam miteinander. Unruhige Lichter lagen stellenweise in den Straßen. Ich hörte den langsamen, tiefen gequälten Athemzug dieser großen Stadt, ich sah, wie sich die Schatten von dem Gemäuer der hohen, sich untereinander völlig gleichenden Häuser loslösten und an [107] uns vorüberhuschten, ich hörte es aus den Ecken kichern, alles gewann Leben, Ton und eine unbestimmbare, grau in grau verschwimmende Farbe. Mir war’s, als mäste sich in allen Winkeln, schmatzend und an ihrem gierigen Fraße kauend, die Entartung und scheuche alle ihre unzähligen Opfer ruhelos vor sich her. Ich fühlte, wie auch ich zu jenen Opfern gehörte.

Pfui Teufel, auf einmal kam mir vor mir selber und meiner ganzen Erbärmlichkeit ein jämmerlicher Ekel. Das war ja zum Speien, jawohl, zum Speien. Pfui Teufel!

Wir sprachen kein Wort miteinander. Ich fühlte es jetzt: in diesem Augenblicke verachtete ich Ernst.

Er war mir total schnuppe.

Ich rülpste.

Wir schritten in einem kothigen Brei durch die Straßen. Die Pflasterung hörte auf. Die Laternen wurden immer spärlicher. Es war stockfinster. Hie und da zuckte hinter einem rothen Vorhang ein steiler Kerzenstreifen in die Höhe. Äh – dieser warme, odiose Geschlechtsgeruch. Es machte mir ein höllisches Vergnügen, recht tief durch den Koth zu stapfen. Jetzt hätte ich mich am liebsten in dieser breiigen Suhle gewälzt mit diesem Fontana [108] und ihn abgeschnüffelt, wie ein altes Mutterschwein ein verrecktes Aas abschnüffelt. Nein, konnte diese Bestie komisch sein!

Wir giengen längs der Festungsgräben dahin, in einem saumäßigen Koth unter entlaubten, schwarzen, nassen Bäumen mit schmieriger Rinde und halbverfaulten, schwarzen Blättern an den gichtischen, verkrüppelten Ästen. Es roch nach nasser Erde und Verwesung.

Diese nächtliche Wanderung hatte gar keinen Zweck. Aber sie that uns beiden wohl.

Auf einmal empfand ich Lust, eine bodenlose Schweinerei zu begehen. Es war aber gar keine Gelegenheit dazu vorhanden, und ich wußte auch nicht, was ich thun sollte. Das reizte mich so, daß sich meine Thränendrüsen entzündeten. Ich hätte am liebsten aufgeheult, laut.

Aus Wuth stieg ich bis über die Knöchel im Schmutz herum.

Plötzlich blieb Ernst stehen. Er begann zu sprechen, ganz unvermittelt, aus einem unwiderstehlichen Mitteilungsbedürfnis, nicht aus Vertrauen wie früher. Meine Sinne verwirrten sich vollständig, ich verlor von allem Anfang an den Faden des Gespräches, faßte nichts auf, ich wußte nur, daß er [109] sich unglücklich fühlte, daß auch ihn ein so unsäglicher undefinierbarer Ekel vor dem Leben und vor allem überhaupt erfaßt hatte. Ich hörte das Wort „Tod“ dann „nicht mehr weiter, so nicht mehr weiter leben“. Mit einemmale, wie durch einen Zauberschlag erwachte meine ganze, alte, heilige Leidenschaft wieder. Ich faßte stürmisch seine Hand, fast hätte ich sie geküßt. Was ich sagte, weiß ich heute nicht mehr, habe ich vielmehr nie gewußt, ich weiß nur, daß er meinen liebevollen, fast stürmischen Worten kühle Ironie entgegensetzte, daß er immer ruhiger, frostiger, zurückhaltender und ablehnender wurde.

Dann benahm ich mich wie ein verliebter, dummer Gymnasiast. Meine Stimme brach vor verhaltenen Thränen, aber meine Augen waren trocken. Ich weinte mit der Kehle. Ich bat ihn schließlich, mich mitzunehmen, wenn er in den Tod gehen wollte, mich mit ihm sterben zu lassen. Ich bettelte.

Er zog sich höflich, lächelnd, immer weiter von mir zurück.

Endlich fragte ich ihn, warum er mich nicht mithaben wollte.

Er gab eine ausweichende Antwort.

Ich drängte ihn, schon stieg ein leiser Grimm in mir auf.

[110] Endlich sagte er ganz leicht und leise, aber unendlich beleidigend: „Weil ich glaube, mein lieber Knut, daß das alles für Dich doch nur – Reclame sein soll. Das heißt, Du willst Reclame daraus für Dich machen. Du willst nur, daß man von Dir spricht.“

In diesem Augenblicke kam ich völlig von Sinnen. Es folgte eine unbeschreiblich häßliche Scene. Ich stürzte auf Ernst los und schlug ihn drei-, viermal ins Gesicht, dann spuckte ich vor ihm aus und trat nach ihm mit den Füßen.

Er wehrte sich nicht im geringsten. Er schlug auch nicht zurück, nur bleich, sehr bleich war er geworden; nie in meinem Leben habe ich jemand so bleich gesehen. Dann wandte er sich ohne das geringste Wort um und gieng aufrecht mit leichten, aber festen Schritten gegen eine sehr hohe, graue Mauer zu und verschwand. Ich sah nur noch, wie über seinen ganzen Rücken ein starkes Zittern lief.

Dann warf ich mich der Länge nach in den Schmutz. Es war mir eine Wollust, mit meinem brennenden Gesicht in dem nassen, kalten Koth zu wühlen. Als ich aufstand, war ich ganz ruhig geworden, nur heftigen Durst empfand ich, sonst gar nichts. Ich sah aus wie ein Schwein. Das war mir [111] aber gerade recht. Ich gieng in den ordinärsten Brantweinladen und soff Gin wie ein Vieh. Wie ich nach Hause kam, habe ich nie erfahren. Aber ich war vier Tage krank, und der Arzt war bei mir.


26.

Mich verzehrte Tag und Nacht eine glühende Rachsucht. An meinem dämonischen Racheverlangen konnte ich erst die Titanengröße meiner einstigen Liebe ermessen.

Inzwischen sank ich immer tiefer. Täglich war ich jetzt besoffen. Immer von Brantwein. Schmutzig, in meinem Äußern vernachlässigt, schlich ich abends oder früh morgens am Flußdamm dahin mit stierem Blick und stinkendem Athem. Ich bemerkte, daß mich die Schutzmänner mit mißtrauischem Blick ansahen, und öfter als einmal gieng mir so ein Hüter unserer trefflichen „göttlichen und menschlichen“ Ordnung Hunderte von Schritten nach.

So in diesem Zustande traf ich einmal sie, meine kleine Sphynx. Sie gieng ganz ruhig mit ihrer hohen, vollen, elastischen Gestalt einher, in einen weiten Mantel aus rothem Plüsch gehüllt. Nie habe ich ihren Namen erfahren. Sie gieng gleich mit mir trotz meines Zustandes.

[112] Seit jenem Tage trank ich nicht mehr und vernachlässigte mich nicht mehr. Ich haßte den Alkohol. Ich berauschte mich am Geschlecht, manchmal sprach oder schrieb ich sogar biblisch (alttestamentarisch natürlich).

Nie habe ich so viel gegrübelt wie damals, trotzdem hatte ich die ruhige Gewißheit, daß ich zugrunde gehen müsse, ganz elend, ganz gemein. Aber ich wollte einen würdigen Abschluß.

Wenn sie sich so lacertenhaft in die gelbe Seide meiner Decken einbohrte, in die gelbe Seide, welche meinen Nerven so wohl that, und ihren prallen und doch weichen, weißen Körper dehnte und bog und an den meinen anschmiegte, wie eine Katze, wie eine schmeichlerische, wollüstige Katze, das war ein ganz eigenartiger, ulkiger Kunstgenuß.

Und wie sie duftete.

Wie eine Rose, die in einer Schale voll Cognac lag.

Meine kleine Sphynx mit ihren perversen Räthseln.


27.

Eines schönen Tages kam sie nicht mehr.

Da begann ich zu philosophieren, ganz nach der Schablone, von Kant über Hegel zu Schopenhauer [113] hinauf und zu Hartmann herunter und wieder zu Stirner und Nietzsche hinauf.

Da waren einige ganz göttlich verrückte Kerle darunter.

Ich mußte eine zeitlang von mir in der dritten Person sprechen, immer, wenn ich schrieb oder auch nur an mich dachte. Warum, wußte ich nicht. Ich glaubte eine zeitlang, dies sei der Einfluß der chinesischen Philosophie, von der ich nie ein Sterbenswörtchen gelesen hatte.

Aber es war doch so.

Ich glaubte es ganz steif und fest.


28.

Auf einmal wurde ich wieder vernünftig, so traurig vernünftig. Ich faßte in einigen Minuten meinen Plan, besser gesagt, irgend etwas Unbestimmtes, so etwas Sattes, Grünes zwang mir diesen Plan auf. Zuerst mußte ich mit Fontana ins Reine kommen. Das war ein so netter Kerl. Da mußte ich mich mit Ekel vollsaufen wie ein Schwamm, den man in eine Mistpfütze geworfen hat. Und das brauchte ich, das mußte ich haben.

Ich schrieb an ihn einen Brief, ganz demüthig wie ein Schulbub, es thue mir so sehr leid, mich [114] ihm gegenüber so benommen zu haben, und ich möchte gerne mit ihm reden.

Ich bekam sogleich eine Antwort.

Er bestimmte mir für den andern Abend ein kleines, ganz stilles Restaurant, wo uns niemand kannte.

Den nächsten Tag gieng ich nach dem Diner zu Ada, meiner kleinen, blonden Ada mit dem frechsten Lachen der ganzen Welt. Aber heute heiterte sie mich nicht auf. Wieder dieses ruhige Bewußtsein meiner Feigheit. Ich werde es doch nicht thun und darum zugrunde gehen müssen, ganz elend, ganz gemein. Ich dachte an Ernst. In ihrem Bette, an ihrer Seite lebte ich noch einmal – ich weiß nicht zum wievielsten Hundertmal – diese begrabene, unselige Leidenschaft durch, aber ins Sexuell-Erotische übersetzt. Zum Duft der Tuberose der Hauch der frischen Kastanienblüte. Daraus könnte man ein Toxon destillieren, das einen gerade so gemein sterben läßt, wie wenn man sich im Bordell in den Bauch schießt.

Ich gieng um acht Uhr abends weg und direct nach dem von Fontana bestimmten Zusammenkunftsort.

Als ich hinkam, waren in dem einen Zimmer, dem einzigen, in welchem weißgedeckte Tische standen, [115] die Gasflammen heruntergeschraubt. Es war kein Mensch hier. Ich setzte mich allein in eine Ecke und verzehrte einen in ranziger Butter gebratenen Fisch und bestellte sodann ein Glas braunes Bier. Das Zeug schmeckte fürchterlich öd und fade.

Ich saß so lange allein, wohl über eine gute Stunde, daß ich gar nicht mehr wußte, warum ich eigentlich hergekommen war. Meine Gedanken weilten bei einem ganz andern Bild, das mich namenlos entzückte.

Endlich kam Fontana angerückt, anscheinend sehr geschäftig, wie immer, in der Hand hielt er eine Notenrolle, um den schmutzigen, langen Hals trug er ein weißes Seidentuch. Daran werde ich denken, so lange ich lebe, es wird überdies nicht mehr lange sein.

Dieses Tuch gehörte Ernst. Er hatte es sich ohne Zweifel von ihm ausgeliehen.

„Du wirst mich schon entschuldigen, lieber Knut“.

„… Bitte, bitte“.

Wir kamen rasch ins Gespräch. Er saß natürlich auf dem hohen Roß. Er triumphierte, strahlte. Anfangs wies er alle Annäherungsversuche mit dem Hohn eines barbarischen Siegers zurück. Dann that er so, als stellte er seine Bedingungen. Ich mußte [116] allerlei versprechen. Ich that alles, was er wollte, wußte ich doch nicht einmal, was ich versprach. Dann reichte er mir herablassend die Hand und wollte gehen. Als ich dieselbe berührte, gieng es mir wie ein elektrischer Schlag vom Wirbel bis zur Zehe.

Jetzt nicht, jetzt nicht, schrie es in mir, jetzt wärest du nichts imstande oder würdest alles verderben und dich verraten.

Ich hielt ihn auf. Er that anfangs sehr pressiert.

Ich bestellte einige Flaschen Wein, Hochheimer, und bezahlte sie sogleich vor seinen Augen.

Da blieb er.

Ich trank unmäßig. Ich wußte, heute würde ich nie betrunken werden, und wenn ich den Sund trocken legen müßte.

Fontana goß sich übrigens auch in einemfort ein. Seine Augen wurden bald wie die eines Krebses. Sie saßen förmlich auf Stielen. Er wurde in kurzer Zeit ganz fertig. Natürlich war er nach der dritten Flasche in der rührseligsten Stimmung, es fehlte nicht viel, so hätte er mich seinen besten Freund geheißen.

Dann begann er, von fortwährendem Glucksen unterbrochen, eine salbungsvolle Rede zu halten, so ähnlich wie bei mir zu Hause der alte Pastor Kirsten, wenn er eine Hebamme einsegnet.

[117] Ich hörte allerdings nur den Schluß, denn diesen gackerte er so hell heraus, wie eine Henne beim Eierlegen:

„So wollen wir denn in unserer gemeinschaftlichen Zuneigung und Liebe zu Ernst wieder näher treten und um seinetwillen alles Vergangene begraben und vergessen sein lassen.“

Amen, brummte ich vor mich hin, dann pfiff ich; es muß ein durchdringender Pfiff gewesen sein.

Er ließ seinen Borstenkopf auf einmal niedersinken und spie über die Tischplatte. Er wäre gleich eingeschlafen. Das gieng mir aber wider den Strich. Ich brauchte ihn jetzt nothwendig. Er war mir wirklich ganz unentbehrlich. Er war ein Misthaufen, mit dem ich die Kraft meiner Seele düngen wollte. Ich riß ihn auf, hieng ihm seinen mit Fettflecken übersäeten Mantel um und schleppte ihn mühsam ins Kaffeehaus.

Grog, Grog, Grog.

Weiter ist nichts zu berichten.

Als es vier Uhr schlug, trieb ich zum Aufbruch. Meine Zeit kam heran. Ich begleitete ihn bis ans Hausthor. Dort fiel er mir um den Hals, küßte mich in die Lippen hinein und drückte mir warm die Hand. Mir war es jetzt ganz egal. Ich empfand gar nichts. So war es recht.

[118] Ich sah, wie Fontana hinter sich nach langem Bemühen die Hausthüre schloß, kehrte mich auf den Haken um, wie ein preußischer Gardelieutenant und schritt pfeifend durch die leeren Straßen. Plötzlich hörte ich zu pfeifen auf. Ich durfte ja die Aufmerksamkeit durch nichts auf mich lenken.

Ganz ruhig gieng ich nun weiter mit einem wiegenden, tänzelnden, fast zärtlichen Schritt.


29.

Mitten auf dem Wege fiel mir ein, daß Ernst nicht mehr bei seiner Mutter, sondern ganz allein wohnte. Nicht einmal bei einer Quartierfrau, er besaß ein Zimmer und eine als Entrée eingerichtete Küche. Morgens um acht Uhr weckte ihn ein Lohndiener und brachte die Bude in Ordnung. Das wußte ich alles ganz genau. Gesehen hatte ich ihn jedoch seit dem letzten Auftritte nicht mehr.

Wie günstig, sagte ich ganz ruhig zu mir selbst, indem ich wieder umkehrte, bei einer Gaslaterne stehen blieb und in meinem blauplüschenen Notizbuch blätterte, um seine neue Adresse zu finden.

Nein, wirklich, er wohnte ganz in der Nähe, keine zehn Häuser weit.

Wie günstig, wiederholte ich.

[119] Dann fiel mir erst ein, wie leichtsinnig ich gewesen war, wie ich an gar nichts, aber rein an gar nichts gedacht hatte. Nur so, nur unter diesen Umständen war überhaupt die ganze Geschichte möglich.

Ich empfand Freude, daß es so war, nicht weil es so war, da ich nun auch wußte, daß ich eigentlich von allem Anfang an instinctiv gehandelt hatte. Ich hielt viel auf den Instinct, mehr als auf den feinst angelegten Plan.

Ja, der Instinct!

Jetzt konnte mir unter keinen Umständen etwas geschehen. Der letzte Rest von Bedenken oder Furcht schwand, wenn ich überhaupt je Bedenken oder Furcht gehabt hätte.

Nein, nicht Furcht! Bewahre!

Aber so was Kribbelkrabbelkrauses!

So was Kribbelkrabbelkrauses, so was Kribbelkrabbelkrauses!

Ich hätte, meiner Seele, beinahe zum Singen angefangen. Aber da stand ich auch schon vor Ernsts Hause.

Mit einemmale wurde ich sehr besonnen. Ich sah mich um – kein Mensch weit und breit. Ich nahm meine breite Cravatte ab und steckte sie in [120] die Tasche. Dann klinkte ich an der Thüre. Sie war offen. Im Vorraum, nahe der Treppe, stand ein Milcheimer.

Aha, Vorsicht!

Im ersten Stockwerke niemand!

Rechts eine Glasthüre, aber ganz blind, dann ein langer Gang. In demselben war es stockfinster.

Ich mußte ein Streichholz anzünden, um die Täfelchen mit den Nummern über den weißangestrichenen Doppelthüren lesen zu können. Das war gefährlich. Es galt rasch zu sein.

Nummer 13 – nichts. Nummer 14 – aha! Ich hatte Glück. Schon die zweite Thüre war mein Ziel. Ich drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel. Sie läutete im Innern des Zimmers wohl laut, im Gange klang es aber sehr gedämpft. Ernst kam mit einer schlecht brennenden, kupfernen Lampe in der Hand in leinenen Unterkleidern im nächsten Augenblick zu dem schmalen Fenster neben der Thüre.

„Wer ist’s?“

„Ich.“

„Wer?“

„Ich.“

„Wer? Ich?“

[121] „Ich, Knut.“

„Du –?“

„Ja, ja, mach auf.“

„Gleich.“

Der Schlüssel drehte sich im Loch, einmal, zweimal. Ernst öffnete die Thür, nur ganz wenig und ließ mich eintreten. Er lächelte erstaunt, fast mitleidig, und schüttelte den Kopf.

„Ich habe mit Dir zu reden.“

„Nun so tritt ein, willst Du eine Schale Thee trinken?“

„Ich bitte Dich darum.“

Ich trat ein und nahm am Divan Platz.

„Du erlaubst, daß ich meinen Rock ausziehe?“

„Thu, was Dir gefällt.“

„Ich schwitze nämlich, weißt Du?“

„Aber bitte, genier Dich nur nicht.“

Er kochte Thee.

Wir schwiegen beide.

Als der Thee fertig war, schenkte er mir und sich eine Tasse voll und nahm neben mir am Divan Platz.

„Willst Du lieber Milch oder Cognac?“

„Cognac.“

„Hier, rechts von Dir steht die Flasche. – – – Aber Du greifst ja links, rechts, rechts von Dir.“

[122] „Danke.“

Ich that sechs Löffel in meine Tasse.

„Bitte, aber jetzt erzähle, was führt Dich zu mir?“

Statt aller Antwort griff ich in meine Tasche und führte sodann blitzschnell mit dem geöffneten, haarscharf geschliffenen Rasiermesser einen Schnitt von seinem rechten Ohr gegen den Kehlkopf. Er stieß mich, ohne einen Laut von sich zu geben, mit Riesenkraft zurück. Aber schon im nächsten Augenblick schnürte ich ihm die Kehle zu und schnitt tief im Halbkreis wieder vom rechten Ohr bis zum linken. Heißes Blut floß in strömender Menge über meine Finger. Ich ließ nicht nach, bis ich fühlte, daß jeder Widerstand in ihm erloschen war. Er mußte jetzt bewußtlos sein. Ich sah ihm während des Ganzen fortwährend starr ins Gesicht. Es war wie versteint, von der Blässe des reinsten, parischen Marmors. Seine Augen waren zum Zerreißen weit geöffnet und starrten mich mit einem Ausdruck des tödtlichsten Schreckens, mit einem großen Verwundern über das Unmögliche und nun doch Geschehene an. In diesen Augen lag die Sühne für alle Schmach, die ich um seinetwillen erlitten hatte.

Der war nicht leicht gestorben. Noch zuckte es leise um seine Mundwinkel. Die einzige Bewegung [123] in dieser starren Maske. Der Blutstrom wurde schwächer. Ich preßte meine Lippen an die Wundränder und schlürfte das Blut ein, langsam, in großen Tropfen, wie schweren, kostbaren Wein, wie eine seltene Delicatesse. Es war köstlich.

Ein wohliger Rausch kam über mich.

Plötzlich ekelte mich. Das war geronnenes, klumpiges Zeug. Ohne Zweifel, jetzt war er todt.

Ich stand auf und sah mir in aller Seelenruhe das Zimmer an. Es war nur sehr einfach eingerichtet. Dann trat ich zu dem mit weißer Glasur übertünchten Waschtisch, that einige Körnchen Kalium hypermanganicum in ein geschliffenes Glas und spülte mir den Mund aus. Über dem Lavoir aus Milchglas lag eine kleine Pincette. Ich nahm dieselbe zwischen meine Finger, prüfte sie und trat vor die Leiche. Es interessierte mich, zu erfahren, wie tief ich geschnitten hatte. Ich fand auf dem porzellanenen Tintenzeug eine rostige Stricknadel. Mit derselben sondierte ich die Wunde und suchte dann mit der Pincette das eine Ende der Carotide zu fassen. Es gelang mir aber erst nach großer Mühe.

Mit meinen Zähnen versuchte ich nun ein Stück davon abzubeißen. Ich war es indessen nicht [124] imstande. Endlich schnitt ich einen Partikel mit der Nagelscheere weg, wickelte ihn in rosa Seidenpapier und that ihn in mein Portemonnaie. Ich wollte doch auch eine Erinnerung an diesen Morgen mit nach Hause nehmen.

Ich trat sodann vor den Spiegel. Schrecklich sah ich aus. Ganz unkenntlich. Bis in den Hals hinein mit Blut verschmiert. Die Haare waren im Bart und auf dem Kopfe zu einer steifen Kruste verklebt. Das Hemd war wie ein Schwamm. Ich untersuchte die große, braunlackierte Kanne. Kein Tropfen Wasser.

Auf den Zehenspitzen gieng ich in die Küche und lugte auf den Gang. Es schien ganz öde zu sein. Leise schritt ich zur Wasserleitung und füllte die Kanne. Als ich den Deckel zuklappte, hörte ich, wie jemand brummte:

„Guten Morgen, Herr Bermann“.

„Guten Morgen“.

Es war schon ganz licht.

Ich drehte mich um. Eine Gestalt mit einem Korbe stieg die Treppe ins zweite Stockwerk empor. Das war völlig ungefährlich.

Ich schloß mich abermals sorgsam ein, schob den Riegel wieder vor und zog mein Hemd aus. Das wollte ich hier lassen. Ich hatte vorsichtshalber ein [125] ganz einfaches und ungemerktes Nachthemd angezogen, daher, um Fontana nicht aufzufallen, die breite Cravatte. Ebenso mußten der Kragen und die Manschetten hier bleiben. Auch das war ganz ohne Gefahr. Sie waren noch nie getragen und vor ungefähr zwei Jahren auf einer Reise in Hamburg gekauft worden. Niemand von meinen Bekannten wußte, daß ich zufällig in Hamburg gewesen war. Dann wusch ich mir zuerst aufs sorgfältigste die Hände, reinigte, beschnitt und feilte meine Nägel, wusch meinen Hals und meine Brust und mein Gesicht und zuletzt die Haare mit Glycerinseife. Nicht eine Spur war mehr zu bemerken.

Ich untersuchte die Weste. Sie war voll kleiner Spritzer. Mittelst Wassers und Ernstens Nagelbürste entfernte ich sie jedoch vollständig. Die Hose mußte ich mit Seife waschen bis zum Knie und stark bürsten. Ich wusch sie dreimal, bis das Wasser nur mehr die graublaue Seifenfärbung annahm. Ich hatte die ganze Seife, ein großes Stück, und das gesammte Wasser verbraucht. Dann zog ich ein Hemd Ernstens an, schnitt das Monogramm heraus, verbrannte es, band einen Kragen von ihm um, that meine Knöpfe in ein Paar von seinen Manschetten und knüpfte meine Cravatte zurecht. Als ich [126] die Weste eben angezogen hatte, klopfte und klinkte es an der Thüre.

Der Lohndiener.

Mein Athem stockte, mein Herz drohte stille zu stehen.

Ungefähr zwanzigmal klopfte und hämmerte der schreckliche Kerl. Dann entfernte er sich mit schlürfenden Tritten, brummend, schimpfend.

Ich hörte so etwas wie:

Gelumpt – verschlafen!

Ja, er schlief, und wie fest!

Ich zitterte so, daß ich über eine halbe Stunde brauchte, meine ganz mit Koth und Blut bespritzten Stiefletten in dem dunklen Entrée zu bürsten und blank zu wichsen. Die Hose, welche noch ganz naß war, klebte, als ich sie anzog, an meine Schenkel. Der Rock lag, ganz rein, am Bette. Nun legte ich meinen langen, bis an die Knöchel reichenden Codrington an, bürstete meinen steifen, schwarzen Hut, streifte die Handschuhe über, vergewisserte mich, ob ich nichts vergessen hätte, und betrachtete mich abermals aufs genaueste im Spiegel. Kein Mensch konnte erkennen, was ich vor einigen Stunden gethan hatte. Ich sah wie ein vollendeter Gentleman aus.

[127] Wieder dieses peinliche Hinauslugen auf den Gang. Teufel, gerade vor der Wohnung tratschten zwei Weiber ins Endlose. Und ich mußte jetzt fort, wenn nun der Lohndiener wieder kam. Endlich, nach einer Ewigkeit trennten sich die beiden Hexen. Ich hörte zwei Thüren zuschlagen, trat rasch aus der Küche hinaus und sperrte die Thüre hinter mir ab. Im selben Augenblicke fiel mir ein, ich hatte meinen Stock vergessen. Zurück! Ich war so verwirrt, daß ich ins Zimmer schritt und alles hinter mir offen ließ. Als ich zurück kam, sah ich am Ende des Corridors einen schlanken Soldaten verschwinden. Er mußte an der offenen Thür vorbeigekommen sein. Jetzt schloß ich aber sorgsam zu. Fast laufend verließ ich das Haus. Niemand begegnete mir, niemand sah mich.

In der frischen Luft wurde ich wieder ruhig. Langsam schritt ich die breite, belebte Hauptstraße hinunter und warf ganz frech Ernsts Zimmerschlüssel in ein Kellerloch. Am Ende der Straße blieb ich stehen und überlegte, was ich nun beginnen sollte.

Es war mir zu fade, nach Hause zu gehen.

Da fiel mir eine großartige Idee ein. Jetzt in dieser Stimmung wollte ich Kunst genießen.

[128] Ich bog nach rechts und schlug den Weg zur Gemälde-Ausstellung ein.


30.

Ich kam zur katholischen Norbertskirche, einem kleinen unscheinbaren Bau aus dem Anfang unseres Jahrhunderts. Ich fühlte mich müde und entschloß mich, einen Augenblick in der Kirche zu rasten.

Drinnen war’s dämmerig, und ein süßlicher Duft von Weihrauch und ein warmer Hauch von brennenden Wachskerzen erfüllte den engen Raum, der durch seine unverhältnismäßige Höhe noch zusammengedrückter erschien. Am Hochaltar las ein alter, weißhaariger Priester in goldstrotzendem Gewand die Messe. Seine Bewegungen waren voll und klar und von einer unendlichen Würde. Ich studierte sofort eingehend die ganze Regiekunst dieses so ausgebreiteten und fortwährend im Zunehmen begriffenen Glaubens und fand sie bewunderungswürdig. Wie das alles klappte, wie das auf Stimmung berechnet war, wie farbenprächtig, welch eine lebensfreudige Entsagung, was für ein echt künstlerisches Paradoxon!

Es waren fast gar keine Beter da. So ruhig, so still, fast traut.

[129] Es kitzelte mich in den Fingerspitzen, als ob ich Frostbeulen gehabt hätte. Es kam so wie eine dichterische Stimmung über mich. Ich habe das nie im Rausch gehabt, aber nach allen Räuschen. Ich nahm mein Notizbuch heraus, ein blauplüschenes, abgegriffenes Büchelchen in Goldschnitt mit einem Visitenkartentäschchen und legte es vor mich hin auf die Brüstung der hölzernen Bank. Dann suchte ich in allen Rock- und Gilettaschen nach einem Bleistift.

Hier – das – nein, das war ein Cigarrenstummel.

Schlamperei!

Ich warf ihn weg.

Endlich ein ungespitzter Stumpf.

Kein Taschenmesser natürlich.

Ich spitzte ihn mit meinen langen, harten Nägeln und meinen starken, aber plombierten Zähnen, so gut es eben gieng.

Dann fieng ich zu „düchten“ an:

  
Schenk mir Deine bleichen Lippen,
Kleines, armes, krankes Kind,
Ach, durch meines Stiefels Strippen
Weht ein kalter Wind!

Meine Hosen ausgebissen,
Und durchlöchert meine Schuh,
So ist auch mein Herz zerrissen
Und verschlampampt meine Ruh.

[130] Nein, das gieng nicht recht, zu so was war hier wohl nicht der richtige Ort.

Ich wollte mich sammeln und sah den düstern, engen Schacht empor. Gleich fieng’s mich wieder zu kitzeln an. Diesmal ganz anders. Die Finger glitten nur so übers Papier, während sie früher träge dahinkrochen und bei jedem Schattenstrich wie ein Lastwagen ins Papier drückten:

Rauchsäulen meines Schmerzes
Steigen qualmend
Zum heitern Firmamente,
Zum Himmel empor,
Wo unter blauer,
Sternengestickter Decke
Der wohnen soll,
Zu dem Priester und Gläubige,
Die Bettler und die Enterbten,
Elende, Nackte und Gefangene,
Die aus dem Paradiese Ausgestoßenen,
Zu dem die alten Weiber beten –
Und die Großen der Erbe.
Und neben mir
Dampft’s thurmhoch auf
Und wallt empor.
Die rauchige Flammensäule derer,
Die zum Himmel schreien.
Aus den Lachen geronnenen Blutes
Und sauren, heißen Schweißes,

[131]

Aus den Wunden,
Die Geißeln schlugen.
Millionen Hände erheben sich
Über ewig gebeugte,
Mit erzenen Jochen beladene
Sclavennacken.
Und ich flehe und bete
Um einen Tropfen,
Um einen einzigen Tropfen
Aus dem Urquell der ewigen Güte
Für das Flammenmeer
Meiner Qual und meiner Schmach.
Doch heiter bleibt der Himmel,
Und mit dem frechen Lächeln
Der lasciven Gottseligkeit
Auf den geschminkten Lippen
Öffnen die Horen das Thor
Helios goldenem Wagen.
Niedrig kriecht
Auf der schlammigen Erde
Der Rauch der Qualenopfer,
Denn der, der da droben wohnt,
Ist taub geworden,
Denn es näseln
Tausend Pfaffen,
Es beten tausend alte Weiber,
Und seine Augen sind trüb,
Denn es streuen Weihrauch
Die Großen der Erde!

[132] Gerade als ich fertig geworden war, setzte die Orgel ein. Breite, qualmende Töne, die zäh und schwer wie flüssiges Blei an den Wänden niederströmten. Ein weiches Gefühl mystischer Verträumtheit hüllte mich ein und durchtränkte mich förmlich, es floß durch meine Adern und strömte zum Gehirn und von da in alle Nerven bis in ihre feinsten Endigungen. Die engen Wände rückten auseinander, das Schiff der Kirche verlängerte sich ins Endlose, fern in einem schwimmenden Glanz, von steigenden Nebeln umgeben, leuchtete der Hochaltar. Das Bild der Madonna löste sich aus seinem Rahmen und schwebte, einen langen Lichtstreif nach sich ziehend, lächelnd auf mich zu. Seltsame, langgezogene Laute schlugen an mein Ohr, wie weiche Hände legte sich’s um Kopf und Nacken.

Ich sank in die Knie und ließ mein Haupt tief, tief auf meine Brust niedersinken. Dann hob ich es langsam empor und beugte es in den Nacken zurück, so daß einige Tropfen aus meinem noch feuchten Haar meinen Rücken hinunter rannen. Die Unterarme nach oben gebogen, breitete ich meine Handflächen aus, wie Christus auf den Bildern der italienischen Schule. Ich sah keine Wölbung, nur ein Blau von intensiver Helle und endloser Unergründlichkeit. [133] Ich war nicht andächtig, aber ich mußte doch beten:

Ich danke dir für die Kraft und den Muth, welchen du mir gabst, du Fürst der Schmerzen. Ich danke dir für den Stolz, der jetzt meine Brust hebt und für die unbeschreibliche Wollust der größten Stunde meines Lebens, der Stunde, in der ich Leben vernichtete. Ich mag im kindischen Zeugungstaumel schon Leben geschaffen haben. Aber was ist das gegen die Vernichtung! Leben schaffen heißt arbeiten für den Tod, Leben zerstören heißt Raum machen für neues Leben. Ich habe nichts, was ich dir für diese Gloriole, die du mir ums Haupt wobst, darbringen könnte, so opfere ich dir denn diese Stunde selbst, und diesen Mord und all sein Blut mit dem lieblichen Duft auf. Laß es dir angenehm sein, und nimm es hin, der du gesagt hast: „Dies ist mein Leib und dies ist mein Blut, trinket davon!“ Ich strecke dir meiner beiden Hände Schalen entgegen, die noch vom Blute dampfen wie Weihrauchkessel. Denn dein ist die Welt und das Reich und die Herrlichkeit. Amen.

Und vor mir stand Christus mit einem heilig-frohen Lächeln, ganz nackt, den Dornkranz auf, die Brust, die Lenden, den Rücken zerfleischt. Stromweise rann das Blut an ihm hernieder. Und er trug [134] seinen Bart und hatte seine Augen und seinen Mund. Mit seiner rechten Hand rührte er an sein Herz, welches sofort barst. Neue, rothe, rauchende Springquellen floßen heraus. Plötzlich hielt er einen goldenen Becher in der Hand und füllte ihn mit seinem Blut und bot ihn mir dar. Aber ich konnte ihn nicht erreichen.

Gib, gib mir, gib mir, bat ich, gib mir, denn ich verdurste.

„Ich verdurste!“ schrie ich mit aller Kraft.

Dumpf hallte meine Stimme in dem engen Raume wieder und kroch in alle Ecken.

Da kam ich zu mir.

Welch ein auffallendes Benehmen!

Aber ich war zum Glücke ganz allein. Die Lichter am Altar waren erloschen, die Messe beendet, der Priester fort.

Ich trat aus der Bank, stäubte mit meinem Taschentuche meine Knie ab und verließ die Kirche.

Mein Gott! Was einen doch so ein bißchen Mord in Aufregung versetzen kann!

Tant de bruit pour une ommellette!


31.

Die Sonnenstrahlen fielen schräg in die stille Straße. Am Ende derselben an der rechten Ecke [135] war ein großer Fleischerladen, welcher, weit geöffnet, in der Morgensonne prahlte. Daran schloß sich unmittelbar der Gemüsemarkt an. Ich durchschritt denselben. Neben riesigen Haufen von Blumenkohl, dessen zartes, weißes Fleisch sich durch die saftigen, grünen Blätter drängte und quetschte, lagen Salatbüschel aufgehäuft, rothe Möhren, weiße und gelbe Rüben, Spinat und Petersilie, in Körben Johannisbeeren, Kirschen und Weichseln, roth wie durchsichtiges Glas, frühreife Birnen, hie und da gigantische Wassermelonen, deren angeschnittenes Fleisch wie Blut hervorschimmerte. Auf langen, mit weißen Tüchern belegten Brettern lagen thaufrische, in feuchte Gaze gehüllte Butterstollen, Topfen- und Käselaibe. In irdenen Gefäßen schimmerten dicker Rahm und weiße, schaumige Milch. Ein frischer Erdgeruch schwebte über dem Ganzen. Am Ende des Marktes breitete sich ein Park aus. Ich gieng langsam durch die sonnenbeschienenen Anlagen, in denen die Amseln sangen und allerliebste Kinder auf dem weißen Kies spielten, dahin. Vor einem kleinen Mädchen blieb ich stehen. Ein reizender, süßer Fratz, ganz in weiße Spitzen gehüllt, mit einem rothen Capothütchen, von weißen Rüschen innen eingefaßt, aus dem das altkluge Gesicht mit ein [136] paar großen, schwarzen Augen neugierig hervorguckte. Ich begann mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen.

„Wie heißest Du denn?“

(Sehr leise) „Dora.“

„Wie?“

„Dora.“

„Was machst Du hier?“

„Ich spiele, willst Du mit mir spielen? Ich habe eine Springschnur und einen Reifen und einen großen, grünen Ball mit einem Affen darauf.“

„Ah – geh doch!“

„Ja, gewiß. Ich will Dir alles zeigen. Komm mit, spielen.“

„Ich, danke Dir, Dora, ich habe keine Zeit und bin auch zu groß dazu. So große Leute dürfen nicht mehr spielen. Wenn Du so groß sein wirst wie ich, wirst Du auch nicht mehr spielen.“

„Aber ich will immer spielen.“

„Das geht nicht, spielt denn Deine Mama?“

„O ja – mit mir.“

„Nun ja, wenn Du einmal Mama sein wirst, kannst Du auch wieder spielen?“

„Ich – Mama sein?“

„Nun ja, – sage mir lieber, hast Du Geschwister?“

[137] „Ja, vor vier Monaten hat mir der Storch einen Bruder gebracht – einen so kleinen. Er heißt Fritz.

Mir kamen die Thränen in die Augen. Ich hätte so gerne das Kind herzhaft geküßt.

Da kam die Mama. Eine junge, sehr schöne und sehr feine Dame. Sie hatte ein Kleid aus pfirsichfarbener Seide an, die Taille aus dem gleichen Sammt, mit an den Achseln weiten Ärmeln und an der Brust einen Einsatz in Form einer halbgeöffneten Blumenkrone, deren Inneres von einem flockigen Pelz besetzt war. Am Busen trug sie zwei prächtige Dijon-Rosen. Sie nahm das Mäuschen bei der Hand und führte es sachte fort, indem sie mir freundlich lächelnd zunickte. Das Kind sah sich nach mir fortwährend um.

Vor dem Ausstellungspalaste stand eine lange Reihe von Wagen. Einige vorübergehende Bekannte grüßten flüchtig. Ich dankte nicht.

Ich löste ein Billet und kaufte einen Katalog.

Im Entrée nichtssagende Büsten. Portraits feister, selbstzufriedener Spießbürger. Ich spuckte aus.

Im russischen Saal ein Bild von Werestschagin: „Marschall Davoust im Tschudor Kloster“, pastos gemalt. Ich blätterte im Katalog und las: Saal I [138] (russische Abtheilung Nr. 27. Werestschagin „Marschall Davoust im Tschudor Kloster“. Davoust hatte das Hauptquartier im Neunjungfrauenkloster (Nowodewitschi-Kloster), wenn er aber nach dem Kreml kam, so hielt er Rast im Tschudor-Kloster, wo der Altar herausgeworfen und an dessen Stelle sein Feldbett postiert wurde. Zwei Gemeine aus dem ersten Corps hielten an beiden Seiten des „Zarenthores“ Wache.

Der Text langweilte mich ebenso wie das Bild.

Dann weiter durch die verschiedenen Säle. Wieder Landschaften, Portraits, Stimmungsbilder, Stilleben, etwas Mythologie, protzend, die Hälfte der Mittelwand eines der größten Säle einnehmend, ein Schlachtenbild, ein Bild eines Professors der Akademie und „Ritters hoher Orden“. Eine Schlacht ohne Blut und Verwundete, nur dicker Pulverdampf und auf einem spinatgrünen Hügel die „Sommitäten“, ein paar unendlich stupid dreinglotzende Generäle. Weiters Historienmalerei (größtentheils polnischer Herkunft), Studien, bescheiden in die Ecke gedrückt, ein paar Genrebilder, einige Pastelle.

Plötzlich fesselten mich zwei Bilder, die unmittelbar nebeneinander aufgehängt waren. Das eine stellte eine dürftige Stube dar, in deren Mitte um einen [139] wackligen Tisch bei einer rußenden, blakenden Lampe ein paar rhachitische Rangen saßen und ein Weib mit schlaffen Brüsten und einem matten, gelben Gesicht mit großen, vergrämten Augen. Vor dem Tisch ein von Kohlenstaub geschwärzter, starker Mann, ungefähr den Vierzigern nahe, mit buschigem, rothblonden Bart und wilden Augen, der mit ausgestrecktem Arm, an dem alle Muskeln, besonders der Biceps, plastisch hervorsprangen, auf ein paar armselige Silberstücke zeigte, die noch auf der Platte des Tisches tanzten.

Neben mir standen zwei schmeerbäuchige Herren in schwarzen Salonröcken, mit Cylindern auf ihren Glatzen und dicken, goldenen Uhrketten. Sie sahen wie zwei Commerzienräte aus, die nach dem déjeuner dinatoire statt Seidlitz-Pulver Kunst einnehmen wollten.

Einer hustete.

„Volksausbeutung, natürlich, hat er schildern wollen, dieser Phantast Boschetti, und so einen Menschen haben wir durch gutbezahlte Bestellungen jahrelang unterstützt. Wir sind zu gut, o, wir sind zu gut.“

„Das kann uns gleichgiltig sein, lieber Herr Mückenschnabel“, meinte der andere, vollkommen gleichgiltig, [140] was diese Bohême eigentlich von uns denkt, die ohne uns doch nur elend verrecken könnte. Aber der Staat sollte dafür Sorge tragen, daß nicht unter dem weiten Deckmantel der Kunst solche gefährliche Ideen öffentlich zur Schau getragen werden können.

Der Pöbel . . …“

Ich hörte glücklicherweise nichts mehr. Die beiden waren in ein Seitencabinet getreten, wo Kupferstiche und Radierungen ausgestellt waren. Diese interessierten mich jedoch nicht.

Ich stellte mich vor das andere Bild. Ein breiter, glatter, schwarzer Rahmen faßte es ein.

Unten stand auf einer kleinen Tafel in Gestalt eines halb aufgerollten Blattes: „Muspilli“. Das Bild war ohne Zweifel nur für die Ferne berechnet, im impressionistischen Sinne gemalt. Dicke Farben. Ich trat einige Schritte zurück. Nur langsam ergriff mein Auge die Linien. Eine weite Fläche, wie eine Heide, ganz in Blut getaucht, und im Horizont unfaßbar groß, unendlich. An demselben in der Ferne ein Meer von Flammen. Dunkle Umrisse einstürzender Gebäude. Den Vordergrund beherrschte eine riesige Gestalt, ganz schwarz in Schwarz gemalt, hoch aufgerichtet, mit lauerndem, [141] vornübergebeugten Kopfe, dessen Profil nicht zu erkennen war.

Das eine Auge leuchtete mit einem triumphierenden, satanischen Glanz. Die herunterhängende Hand war zur Faust geballt.

Es war so still in dem weiten Saal.

Eine Glocke tönte. Ich fuhr auf. Unmöglich! Die Ausstellung wurde geschlossen. Es war sechs Abends. Ich war also fünf volle Stunden vor dem Bilde gestanden.


32.

Ich begab mich in ein Café an der Ecke einer belebten Straße, die zu den Anlagen am Flußufer hinunterführte, um eine Tasse Cacao zu trinken und die Abendblätter zu lesen. Überall in breiten, fetten, aufdringlichen Lettern das Wort „Mord“. Ellenlange Schilderungen, haarsträubender Unsinn, Faseleien von der „Spur des Thäters“, über dieich nur lachen konnte, ungeheuere Erregung in der Bevölkerung, die That schreit nach Sühne u. s. w., u. s. w.

Es war dunkel geworden, als ich die Platanen-Allee durchschritt, welche das rechte Flußufer einsäumte. Die Böschungen waren mit Flieder bepflanzt, der in vollster Blüte stand und schwer, betäubend, [142] süß duftete. Ich kenne einen ähnlichen Duft, nur stärker, noch berauschender und gefährlicher. Ein rother Schimmer wie von einem fernen Brande zitterte in der Luft. Lange, zerfließende Schatten reckten und dehnten sich auf dem helleren Grunde, wie ferne, dumpfe Klänge schwamm es über den Blütenbüscheln. In den Fenstern der Gebäude jenseits der Parkanlagen flammt ein steiler Kerzenstreifen nach dem andern in die Höhe, zehn – zwanzig – vierzig – hundert – tausend – nein, hunderttausend, Millionen. Überall Flammen, rothes jubelndes Licht. In den Blüten des Flieders verbrennt der Duft.

Feuer, leuchtendes, prangendes Feuer!

Muspilli! Muspilli!


33.

Mit mir steigen zugleich singende Töne die Treppen hinauf. Sie schwingen und vibrieren in bunten, stechenden Farben und ersterben schließlich in einem zitternden, wellenden Roth. Als ich mein Zimmer betrat, war es von feurigen Tonwellen erfüllt.

– – – – – – – – – –

Ich stehe am Fenster und blicke über die Dächer der großen Stadt, über diese eckige und runde, [143] ineinander geschobene Planimetrie. Da – da gerade vor mir über einem Dach mit trapezoidalen Flächen steht der Mond, das heißt, er schwebt mit unbestimmtem Glanz wie ein Ball von gleichem specifischen Gewicht in einer Flüssigkeit. Seine Ränder verschwimmen in einem milchigen Dunst. Er scheint immer größer zu werden, zuerst wie ein Schild, dann wächst er zu einer riesigen Scheibe aus, die den halben Himmel bedeckt. Mit seiner Größe wächst auch sein Glanz. Wie flüssige Säulen, armdick, werden die Strahlen. Die Oberfläche beginnt zu wogen wie ein Meer im Sturm. Große Tropfen lösen sich los, Tropfen von einem hellen, leuchtenden Glanz wie geschmolzenes Metall und fallen auf die Dächer und zerstieben in tausend und tausend Funken. Silbernes Feuer. Aus allen Ecken und Enden bricht Feuer hervor. Alles hüllt sich in heiße, silberne, glänzende Nebel. Fern gegen Osten am Horizont starrt eine blutrothe Wand. Kein Qualm, kein Rauch das heilige Agni, das Urfeuer, welches die zwei Welten geschaffen, die Sonne festgestellt, den Mithra gezeugt hat, und das nun alles wieder verschlingt, um in sich selbst aufzugehen. Ich fühle, wie ich zu strahlen beginne. Meine Nerven treten aus den Fingerspitzen wie feine Drähte, aus den Poren [144] meiner Haut strömt Licht. Ich verbrenne ganz schmerzlos, in einem heiligen Brande. All das Körperliche schwindet, wird feiner und immer feiner, durchsichtig wie Glas, ich versprühe zum Astralleib. Da – eine neue Lichtquelle. Langsam steigt es wie ein zitternder, feuriger Ball vom Boden auf und zerstiebt in der Luft zu tausend Funken. Elmsfeuer auf allen Dächern. Ich starre in das Lichtmeer – da – da – siehst du, da – nein dort – jetzt wieder da – dort – drüben bei der Hecke – o, ich erblinde. Flammen von intensivstem Weiß schlagen thurmhoch in die Höhe. Da – in der Mitte der Straße liegt etwas, ein Mensch, ein Mann, mit blauen, weitgeöffneten, starren Augen und offenem, weißen Mund und blondem Bart, ein Mann mit durchschnittenem Hals. Aus den Wunden platzen förmlich knallrothe Feuermeere heraus. Und er wächst ins Unendliche, ins Unendliche, füllt alle Straßen, steigt herauf wie ein Berg.

Er ist die Quelle alles Feuers, ein dunkles, rothes, qualmendes Feuer, dessen Flamme schmerzt. Das entweihte Agni, das die unreinen Leidenschaften verzehrt.

Muspilli! Muspilli!

Und riesengroß, alle Dächer überragend, steht im Hintergrunde eine dunkle Gestalt in undeutlichen [145] Zügen, wie mit Tusch ins Gigantenhafte skizziert. Nur die Augen dringen aus dieser schwarzen, colossalen Masse, diese lauernden, in grünlichem Schimmer phosphorescierenden Augen. Und er reckt sich und dehnt sich und reißt den leuchtenden Mond vom Himmel und zerdrückt ihn mit seinen Riesenarmen zu Milliarden von Funkelbüscheln. Auf seinen Wink wächst und schwillt der ungeheure, unreine, blutige Brand. Die Straße ist verschwunden, alle Häuser, alle Dächer und Bäume versinken in diesem nagenden, fressenden Meer. Ich allein, zum Astralleib verbrannt, schwebe rein über dem Qualm. Ich rette das heilige Agni. Ich selbst bin es. Ich, die reine Flamme.

Muspilli! Muspilli!

Am andern Horizont, dem schwarzen Titanen gegenüber steigt aus einem blauen Dunst die Midgardschlange mit flammendem Rachen und speit Feuer und Rauch durch die Luft.

Der alte Wotan will mit seinem Mantel den Brand ersticken, aber es versengt ihm der Bart, und hinter seinem Rücken zerfällt Asgard zu Asche.

So hat er kein Heim mehr.

Und Hugin und Munin, die undankbaren Raben, fliegen davon.

[146] Und der Schwarze lacht, lacht über den hilflosen Gott, der die Flammen löschen will, in denen eine Welt vergeht.

Da kenne ich auch den Schwarzen. O, wie oft habe ich ihn gesehen. Er ist es, der mir all mein Leid erzählt hat, ich habe ihm gelauscht, und das war mein Verderben.

Denn sein Erzählen ist das Leben. Er ist’s, der Tausendgestaltige – Ahriman, Satan, Mephisto – Loki, Loki, Loki, der Herr der Midgardschlange und des Fenrir, der Gebieter des Weltenbrandes, der Sieger! Und mit seinen Riesenarmen schleudert er alles in den ungeheuren, flammenden Brand – alles, was menschlich ist, die Leidenschaften und unsre Triebe, die uns langsam aufreiben und unsere besten Kräfte verzehren, die unsere Gottähnlichkeit vernichtet und uns zu Menschen erniedrigt haben.

Brand! Brand! Brand!

Vernichtung! Vernichtung! Vernichtung!

Loki! Loki! Loki!

Muspilli! Muspilli!

Nur an mich kann er nicht, denn ich bin rein gebrannt. Nur ein Astralleib. Ich bin ein Gott wie er. Ein Gott neben ihm und darum sein Überwinder.

[147] Ströme von Licht fließen von mir nieder. Sie tauchen in das rothe Flammenmeer und fressen seine Röthe und verzehren den Qualm. Alles verschwindet, die ganze Erde, alle Sterne, der Mond. Die Sonne stürzt im Bogen wie ein großer, feuriger Ball über das Himmelsgewölbe und erlischt.

Ich schwebe allein im unendlichen Raum.

Allein über dem Nichts, dem vernichteten Chaos, wie Gottes Wort über den Gewässern.

Ich habe gesiegt!


34.

O Mutter, Mutter, was haben sie deinem Kinde angethan! Ich bin in einem großen, öden, grauen Hause, so öd und grau, unter vielen, fremden Leuten, die mich nicht verstehen, die mich nur blöde anstarren und grinsen. Sie haben mich in eine große, grobe Jacke gesteckt und mir die Ärmel am Rücken übereinander gebunden. So liege ich im Bett und kann mich nicht rühren. Und ich bin immer ganz allein. Oft habe ich Durst, und niemand, niemand gibt mir Wasser. Ich friere auch so sehr. Hier ist es so kalt, und man macht so selten Feuer. Nicht einmal zum Kamin darf ich gehen und in die Flammen schauen. Das wärmt einen so sehr. Sie [148] stoßen mich weg und schreien mich an, und ich darf nur mit einem Löffel essen. Auch geschlagen haben sie mich schon.

O Mutter, Mutter, ich bin stets so allein, niemand liebt mich, niemand spricht mit mir auch nur ein Wort. Die ganze Nacht bin ich allein. Da kommen dann immer graue Männer und sehen mich so lange, lange an. Und alle tragen rothe Bänder um den Hals.

O, warum kommst du nicht zu mir und legst deine schmalen, blassen Hände, die so kühl und duftend sind, wie Waldblumen im Mondlicht, um meine brennende Stirne, warum läßt du mich so allein! Ich bin so einsam, ich dein krankes Kind.

Komm, setz’ dich zu mir ans Bett.

Komm, Mutter, komm ich bin so elend!


Ende.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schaten